Händelfans muss man die Schönheiten der Musik des britischen Hallensers nicht erklären. Er hatte es drauf, sein Publikum mitzureißen. Seine Musik war zur Unterhaltung gedacht und funktioniert auch so. Mit bravourösen Schmuckstücken für die Sängerstars seiner Zeit. Aber auch mit der Fähigkeit, die Zeit geradezu anzuhalten. Als Händel sich in London als barocker Weltstar mit eigener Opern-Verwertungsmaschinerie etabliert hatte, konnte er die erste Garnitur europäischer Kastraten und Diven auf die Insel locken. Sie folgten seinen Einladungen und er oft auch ihren Wünschen. Für Starkult war damals die Oper der Ort.
Im architektonischen Aushängeschild der Weltmachtambitionen der Grande Nation
In Paris ließ sich jetzt am Beispiel von Händels „Ariodante“ erahnen, wie das funktioniert haben mag. Auch wenn das Palais Garnier selbst mit seinem vergoldeten Prunk hinter der gerade verhängten Fassade schon die erste Verfremdung ist. Aber dieses wohl protzigste Opernhaus der Welt wurde erst hundert Jahre nach Händels Tod zum Mittelpunkt der Opernwelt und zu einem architektonischen Aushängeschild der Weltmachtambitionen der Grande Nation. An Händel dachte da keiner, zumal man vor allem mit Rameau bei Bedarf auf eigene Weltmarken aus der Zeit zurückgreifen konnte. Dank rühriger, seit einem Jahrhundert institutionalisierter Händelpflege in Deutschland (mit drei alljährlichen Festspielen!) und seiner Präsenz in England (King Charles III. erwähnte Händel im Reichstag wie selbstverständlich) sind viele seiner Opern heute längst zurück im Repertoire. In Paris übernimmt aktuell Robert Carsens „Ariodante“-Inszenierung diese Platzhalterfunktion.
„Ariodante“, Eine Liebesgeschichte zum Wohlfühlen
Es ist schon seltsam, dass ausgerechnet diese Händeloper aus dem Jahre 1735 zu den erst spät wieder gehobenen Opernschätzen gehört. Und das nicht nur, weil die Intrigen des royalen Bühnenpersonals aus einem sagenhaften Schottland vergleichsweise nachvollziehbar eingefädelt werden, ein Gottesgericht bieten, den herzoglichen Bösewicht im Stück ausschalten, die zu Unrecht verleumdete Königstochter gerade noch vorm staatlich verordneten „Ehrenmord“ bewahren und am Ende, stringenter als in vielen anderen Barock-Oper, in einem lieto fine münden.
Der ganze erste Akt ist eine Liebesgeschichte zum Wohlfühlen. Der schottische König kann seine Nachfolge wunschgemäß regeln, seine Tochter Ginevra hat sich mit Ariodante den auch in den Augen des Vaters „richtigen“ Bräutigam ausgesucht. Womit die Tochter unter der Haube und das Erbe in den erwünschten Nachfolgerhänden wäre, wenn da nicht der Intrigant Polinesso mit seinen eigenen Ambitionen auf Thron und Prinzessin dazwischenfunken würde. Mit Hilfe der ihm verfallenen Dalinda gaukelt er Ariodante einen Treubruch seiner Braut vor. Der bringt sich zwar nicht wirklich um, wie erst mal alle glauben, nimmt sich aber doch aus dem Spiel, um dann im entscheidenden Moment wieder aufzutauchen.
Im Wachsfigurenkabinett mit William und Kate, Charles und Harry
Dass eine völlig unschuldig auf diese Weise bloßgestellte und mit dem Tod bedrohte Ginevra einen so fundamentalen Vertrauensbruch nicht einfach würde wegstecken können, muss schon Händel klar gewesen sein. Wenn Regisseure heute ein lieto fine des Meisters hinterfragen, dann können sie das durchaus in einem stillschweigenden Einverständnis mit dem Meister szenisch unterlaufen. Eigentlich müssten sie es. Noch dazu, wenn sie – wie Carsen – die Handlung bis in Wählscheibentelefon-Zeitalter, also in eine Welt der von Paparazzi belagerten Royals, heranholen.
Bei Carsen endet das Ganze im Wachsfigurenkabinett, in der Abteilung mit William und Kate, Charles, Harry und na ja. Und die Royals der Geschichte steigen aus der Geschichte aus, wechseln von der Eleganz (a la Kate) ins Freizeitzivil, tarnen sich mit Sonnenbrillen und ziehen von dannen.
Ein umbaupraktisches Bühnenbild
Ruft man sich frühere, bilderstark erzählende, klug charismatische Inszenierungen von Carsen (auch hier in Paris) ins Gedächtnis, dann wähnt man sich diesmal allerdings im falschen Film. Die Bühne (Mithilfe: Luis F. Carvalho) ist vor allem umbaupraktisch. Der sich nach hinten verjüngende Saal wird durch einschwebende Zwischenwände auf eins zwei in Schlafzimmer oder ein royales Büro Richtung Rampe verkleinert. Oder nach hinten erweitert: in einen Jagdsalon, in den lebensgroß ausgestopfte Hirsche von selbst reinschauen, oder in einen Saal mit Ritterrüstungen fürs Zeremoniell oder einen Ball. Alles zwischen Grün und Schottenkaro bei den Kostümen (von Carvalho).
Bei Bedarf lässt Nicolas Paul das Ballett im schottischen Stil hüpfen, dass die Schottenröcke fliegen, hält der König Ansprachen an die Pressemeute, wird auch mal mit gewaltigen Schwertern aufeinander eingeschlagen. Besonders aufregend ist das alles nicht. Und dass jeder der Protagonisten seinen Solo-Arienauftritt vor der Zwischenwand bekommt, wenn dahinter umgebaut wird, ist auch schnell klar. Dass diese Auftritte an der Rampe enden, ist mit Blick auf deren vokalen Drive noch das beste an der regiehandwerklichen Routine, mit der sich Carsen diesmal regelrecht durchmogelt.
Die „Avant-première jeunes“ wird bejubelt wie ein Musical
Das eigentlich Erstaunliche für einen Besucher aus dem Land der Händelfestspiele (und des sogenannten Regietheaters) ist, dass das jugendliche Publikum dieser „Avant-première jeunes“, bei der der Zugriff auf günstige Eintrittskarten mit Ende Zwanzig endet, der Vorstellung mit einer verblüffenden Aufmerksamkeit folgt, kaum jemand eine der beiden Pausen zur Flucht nutzt und am Ende in einen euphorischen (eher für Musicals gängigen) Jubel ausbricht.
Das Atemberaubende der Musik wird knapp verfehlt
Dem kann der Besucher, auch was die musikalische Seite des Abends betrifft, nur sehr bedingt folgen, obwohl gerade in dieser Oper ein Bravourstück das nächste jagt. Harry Bicket und The English Concert bieten im Graben einen geschmeidigen Händelsound, der sich zwar auf das verzweifelte „Scherza infida…“ (Ergötze dich, Ungetreue …) Ariodantes sensibel einlässt, aber das Atemberaubende, das darin steckt, ebenso knapp verfehlt, wie den Furor des „Dopo notte…“ (Nach schwarzer und düsterer Nacht…), mit dem Ariodante das Nochmal-davon-gekommen feiert. Emily D’Angelo hat zwar die vokalen Kräfte klug auf diesen Höhepunkt hin angespart und setzt sie auch ein, doch bleibt sie auch da eher dem jungenhaften Habitus verbunden.
Der mit charakteristisch gestaltendem Timbre aufwartende Counter Christophe Dumaux hat als Bösewicht Polinesso a priori die besseren Komödiantenkarten. Die spielt er auch aus, zumal er schon an der Seite von Cecilia Bartoli als Ariodante in Salzburg der finstere Herzog war. So bieten rollengemäß Olga Kulchynska als Ginevra, aber auch Tamara Banjesevic als leichtfüßig schwebende Dalinda die vokalen Höhenflüge. Matthew Brook setzt bei seinen Bemühungen um den König von Schottland vor allem auf einen väterlich königlichen Habitus. Erick Ferring als Ariodantes Bruder Lurcanio und Enrico Casari in der kleinen Rolle des Königsgünstlings Odoardo komplettieren das Protagonistenensemble. Der Jubel des Jungpublikums freilich hatte die Steigerungsmöglichkeiten schon mit eingepreist.
Opéra national de Paris
Händel: Ariodante
Harry Bicket (Leitung), Robert Carsen (Regie), Roberto Carsen & Luis F.Cavalho (Bühne), Luis F. Cavalho (Kostüme), Nicolas Paul (Choreografie), Alessandro Di Stefano (Choreinstudierung), Matthew Brook, Olga Kulchynska, Emily D’Angelo, Eric Ferring, Christophe Dumaux, Tamara Banjesevic, Enrico Casari, The English Concert