Kurt Weill (und dessen Musik) mal ohne Bertolt Brecht (und dessen Texte) ergibt keineswegs eine „Dreigroschenoper“ für Arme. Der Titel seiner 1933 uraufgeführten Oper „Der Silbersee“ klingt zunächst zwar ein wenig nach Karl May, ist jedoch vielmehr ein aufregendes Zeitstück, das – Oper reagiert ja nur sehr selten derart fix auf aktuelle gesellschaftliche Verwerfungen – nur drei Wochen nach Hitlers Machtergreifung bereits das rasante Aufziehen der Nazi-Diktatur spiegelt.
Die Leipziger Uraufführung wurde meist noch begeistert rezensiert, ein „großer Tag des städtischen Theaters“ wurde da konstatiert. Parteikonforme Medien suchten indes alsbald dessen Absetzung einzuleiten, wollten das „verkümmerte ‚Denkdrama‘ Georg Kaisers durchschaut“ haben. Nach 16 Aufführungen in der sächsischen Musikstadt wurde die Inszenierung abgesetzt. Alles Weitere ist bitterste deutsche Geschichte: Kurt Weill flüchtet in die USA, die deutsche Kulturszene wird gleichgeschaltet. Im Mai 1933 wird das Stück sogar öffentlichkeitswirksam in der durch Caspar Neher illustrierten Ausgabe in Berlin verbrannt. Dessen Renaissance nach dem Zweiten Weltkrieg – im Gegensatz zu den Kassenschlagern „Die Dreigroschenoper“ und „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ – blieb mühsam.
Eine europäisch weltläufige Partitur aus dem Deutschland des Jahres 1933
Umso verdienstvoller also, dass sich nun mit der Opéra national de Lorraine (in Koproduktion mit Opera Ballet Vlaanderen) just die kleinste Staatsoper Frankreichs eines Kurt Weill annahm, der es lange schwer hatte, in die Spielpläne zurückzukehren. Denn die Musik ist von fantastischer Qualität: Da treffen sich die Tänze der Roaring Twenties mit dem Walzer, da trifft Chanson auf Moritat und Liebesduett in einer genuin europäisch weltläufigen Partitur, mit der Kurt Weill viele eigene Eingebungen aus „Die Dreigroschenoper“ mit Zitaten und Anspielungen aus der Operngeschichte mixt.
Gleichsam postmodern werden die Genregrenzen durchlässig, viel Ironie ist da im Spiel, viel Freude am Grenzgang auch zwischen Oper, Schauspiel und Revue, denn gesprochene und melodramatische Textanteile wechseln munter mit sinfonischen und ariosen Sätzen. Gaetano Lo Coco am Pult des Orchesters der Opéra national de Lorraine macht mit feiner dynamischer Kontrastdynamik und klangfarblicher Noblesse deutlich, welch‘ eine inspirierte Partitur er da vor sich liegen hat. Einer Komischen Oper des frühen 20. Jahrhunderts gemäß nimmt er die schnellen Tempi auch mal manisch überdreht, kostet im Gegenzug aber auch die musikalischen Schönheiten lukullisch aus. Versetzt man sich in die Entstehungszeit des Werks zurück, wird einem mehr als beklommen ums Herz: Hätten die Roaring Twenties mit ihren Freiheiten und Lebensfreuden denn nicht einfach in die 1930er Jahre hinübergerettet werden können?
Unter der Oberfläche
Stattdessen zogen die Gewitter des bislang grausigsten Krieges der Menschheitsgeschichte herauf. „Ein Wintermärchen“ nennen Kurt Weill und Georg Kaiser im Untertitel ihr hybrides Bühnenspiel, das als Parabel mehr über die eigene Zeit enthüllt, als den neuen Machthabern recht sein konnte.
An der Oberfläche betrachtet hört sich die Handlung harmlos an: Der preußische Polizist Olim schießt auf den flüchtenden Hungerleider Severin, der sich gerade eine Ananas geklaut hatte, kriegt Gewissensbisse, gewinnt in der Lotterie den Hauptgewinn, kauft sich ein Schloss am Silbersee, in dem er den doch nicht tödlich Verletzten aufnimmt, um ihn gesund zu pflegen – hoffend, dass das Opfer nie merkt, das sein Wohltäter auch der damalige Täter in Uniform ist.
Die Regietheaterschraube und Ersan Mondtags Selbstironie
So richtig mag Ersan Mondtag bei seinem Regiedebüt in Frankreich an die Story nicht glauben. Das Enfant terrible der deutschen Schauspiel- und Opernszene, das bei den Kritikern eher ein Liebling ist, zieht also allerhand Metaebenen ein, dekonstruiert, spitzt zu, karikiert. Gedanklich verpflanzt er die Handlung ins Jahr 2033, somit ins Jahr 100 nach der damals neuen Zeitrechnung des faschistischen Deutschlands.
Kuriose Lemuren-Totengräber mit ewig langen Extremitäten wie aus dem Science Fiction-Horrorkabinett bevölkern die Bühne. Oh je, das soll nun drei Stunden so weitergehen? Geht es aber nicht, denn die Regietheaterschraube wird ständig weitergedreht: Nicht nur treten nun Roboter-Krankenschwestern auf, um Severin als entmenschlicht von Empathie freie Wesen zu Tode zu pflegen, nicht nur stürmen islamistische Terroristen über die Szene – es wird alsbald auch der ganze szenische Castorf-Schwachsinn wieder in Frage gestellt und selbstironisch durch den Kakao gezogen.
Der in Berlin sozialisierte Ersan Mondtag mixt die Mittel von Frank Castorf mit jenen von dessen einstigem Schauspielstar und heutigen Regie-Experten des körperlich entfesselten Slapsticks, Herbert Fritsch. Heraus kommt damit die Brechung der Brechung. Und Brecht, der Erfinder und Meister der Verfremdung, der bei diesem wundersamen Weill-Werk offiziell fehlt, kommt quasi durch die Hintertür des Regiekonzepts wieder herein. Das hat zunächst viel doppelten Witz, weil der Wahnsinn sich eben selbst als solcher entlarvt. Zumal die meist französisch gesprochenen Texte wollen die Musik widerlegen, die Gattungen zoffen sich heftig: Kann sich das „kluge“ distanzierende Schauspiel am Emotionskraftwerk der Oper rächen?
„Viel zu viel Text für eine Oper …“
Der Polizist Olim tritt zu Beginn also als durchgeknallter Regisseur auf, der seine eigene Inszenierung unterbricht, findet dann aber bald größtes Gefallen an der Rolle, die ihm sein Alter Ego zugedacht hat: Mondtags Olim ist ein sanguinischer, leicht übergewichtiger Schwuler, dem das Polizistendasein ferner steht als dem Teufel das Weihwasser. Die Freundschaft aus schlechtem Gewissen zum zaundürren jungen Severin ist eindeutig zweideutig homoerotisch motiviert. Die beiden Jungs hausen dann in höchst seltsamen Locations wie einem ägyptischen Museum (hier, wo die Statuen Gasmasken tragen, äußert Benny Claessens, der furiose Schauspiel-Berserker, als queerer Olim schon mal: „Ich hasse die Musik …“; aber auch die Wahrnehmung seiner Gegner kommt zum Ausdruck: „viel zu viel Text für eine Oper …“) und einer sehr dunklen und sehr braun (SIC!) vertäfelten Villa.
Sandalenfilm-Ästhetik (als Zeichen für Opas olle Oper?) trifft auf ein maximalmotiviertes Ensemble der Entfesselung, das – hier zeigt sich das regiehandwerkliche Geschick von Ersan Mondtag und seinem Team – mit enormem Spaß über die Bühne outriert. Und, oh Wunder, dazu auch noch exzellent singt. Joël Terrins schwärmerisch schwule Tenorlyrik als Severin steht stellvertretend für die sängerdarstellerische Qualität des gesamten Abends, der nur nicht so richtig die Kurve kriegen will. Die Fülle der überdrehten Einfälle führt dazu, dass sich das Ensemble schließlich selbst (und uns) fragt: „Wie bekommen wir das Stück denn nun zu Ende?“ Das gelingt dann übrigens doch noch: mit Momenten der Poesie und der Ruhe in einer langen Umarmung des Paares auf dem titelgebenden Silbersee.
Nancy: Ein genuin europäisches Opernhaus des 21. Jahrhunderts
Für die Opéra national de Lorraine und ihren glückvollen Intendanten aber hat diese Premiere besondere Bedeutung: Matthieu Dussouillez weitet den Werkbegriff für sein in allen Altersstufen gut gemischtes Publikum just mit Weill, dessen schon vor 90 Jahren erfundene Gattungsoffenheit Pate stehen könnte für die soeben veröffentlichte Saison 2024/25: Da steht dann zwar auch mit Donizettis „L’elisir d’amore“ oder Rossinis „La Cenerentola“ mediterran Belcanto-Bekömmliches auf dem Spielplan. Doch die Eröffnung der neuen Saison im Oktober 2024 ist einem eigens zusammengestellten Triptychon gewidmet: In ihm werden Hindemiths „Sancta Susanna“, Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ und Honeggers „La Danse de morts“ gekoppelt, um unter dem Motto „Héroïne“ einem Frauenschicksal entlang von drei Kurzopern des 20. Jahrhunderts nachzuspüren.
„Transgression“ als verwandelnde Grenzüberschreitung steht als Motto über der gesamten Spielzeit. Die aktuelle Premiere mit Kurt Weills „Silbersee“ ist schon ein Vorgeschmack darauf. Und sie demonstriert, dass ein europäisches Opernhaus des 21. Jahrhunderts viel mehr sein muss als eine Reproduktionsmaschine des immergleichen Repertoires. Es muss neue Wege zwischen den künstlerischen Sparten, den Generationen, den Geschlechtern, den Kulturen beschreiten. In Nancy ist diese Öffnung, die nicht zuletzt Regiehandschriften ganz unterschiedlicher Art mit sich bringt, keine politisch korrekte Attitüde, sondern authentische Haltung und künstlerisch gelebte und dramaturgisch stimmige Praxis, die ankommt: Das Haus an der Place Stanislas wird von Neugierigen aller Altersgruppen bevölkert.
Opéra national de Lorraine
Weill: Der Silbersee
Gaetano Lo Coco (Leitung), Ersan Mondtag (Regie & Bühne), Fanny Gilbert-Collet (Mitarbeit Regie), Josa Marx (Kostüme), Rainer Casper (Licht), Guillaume Fauchère (Chor), Till Briegleb & Piet De Volder (Dramaturgie), Ruth Orthmann (Übersetzung des gesprochenen Textes), Joël Terrin, Benny Claessens, James Kryshak, Ava Dodd, Anne-Élodie Sorlin, Nicola Beller Carbone, Inna Jeskova, Séverine Maquaire, Benjamin Colin, Wook Kang, Yong Kim, Ill Ju Lee, Yanis Bouferrache, Anna Moriot, Hélène Ruzic, Irina Pierson, Orchester und Chor der Opéra national de Lorraine