Überbordend, ja geradezu haltlos inszeniert Andriy Zholdak. Er lässt seiner Phantasie derart freien Lauf, dass man zu Beginn von Tschaikowskys womöglich bester, aber verblüffend wenig bekannter Oper „Die Zauberin“ aus dem Staunen nicht herauskommt. Die drei zentralen Schauplätze der Handlung lässt der Regisseur und Bühnenbildner in Personalunion denn auch nicht sukzessive auffahren, sondern geradewegs gleichzeitig. Die heruntergekommene Schänke der titelgebenden verführerischen Nastasia, genannt Kuma, ein Kircheninneres und der Palast des Fürsten Nikita sind somit als synchron sichtbare, flexibel verschiebbare Räume zu bewundern, in denen zur jeweils gesungenen Handlung allerhand Parallelaktionen wahrzunehmen sind.
Eine russische „Carmen“
Dieser einfallssprudelnde Wahnsinn hat freilich Methode, die das Publikum nur zu Beginn bewusst verunsichert, denn die oft mit Bizets Carmen verglichene Zauberin Nastasia schart eine derart enorme Männermenge um sich, dass man zunächst allzu leicht den Überblick verliert. Der Kern der Story ist indes durchweg übersichtlich. Sowohl der fürstliche Vater Nikita als auch sein prinzlicher Sohn sind den Liebes- und Zauberkünsten der schönen Kuma verfallen, was die chronisch eifersüchtige Fürstin Mutter so gar nicht goutiert. Spitzel Mamyrov soll die Zauberin beschatten. Zum tragischen Ende bezahlen Zauberin und Prinz für ihre wahre Liebe mit dem Leben.
„Zuviel, zuviel“? – „Noch mehr, noch mehr!“
Wenn der ukrainische Theatermann Andriy Zholdak, der zuletzt immer mehr zum Geheimtipp der Opernregie avanciert, die Grenzen und Gesetze der Logik grandios bricht und ein seiner Intuition folgendes durchgeknalltes Musiktheater der wechselnden Perspektiven wagt, dann will man zunächst mit dem des sexuellen Überangebots der Göttin Venus überdrüssigen Herrn Tannhäuser ausrufen: „Zuviel, zuviel!“ Doch seine Mischung der Mittel aus surreal Märchenhaftem, realistisch Deftigem, lustvoll Überzeichendem und, wenn es sein soll (wie in all den traumhaften Duetten), musikalisch Ehrfürchtigem gerät so trefflich und findet zu einer immer stimmigeren Ökonomie, dass man sich vor dem Vollblüter und seiner bildstark fantastischen Kunst nur verneigen kann und innerlich ausruft: „Noch mehr, noch mehr!“ Der Regisseur folgt einer höchst zeitgemäßen Dramaturgie jenseits des linearen Erzählens, die den Figuren gleichwohl mit enormer Liebe nahekommt. Sensibel holt Zholdak das Maximum aus seinen wie entfesselt agierenden Sängerdarstellern, die während des Probenprozesses so richtig viel Freude miteinander gehabt haben müssen.
Der perverse Pfaffe
Spielerisch überbrückt der genialische Visionär des Theaters sogar die Trennung zwischen dem librettokonformen Spielort in Nischni Nowgorod des 15. Jahrhunderts und dem Aufführungsort der Premiere im Lyon der Gegenwart. In einem zu Anfang der Oper gezeigten Video lässt er den fiesen Mamyrov als Lyoneser Pfaffen aus einer Kirche der Stadt zur Oper fahren, wo er die Handlung als allgegenwärtiger Big Brother verfolgt und dabei an den Schweinerein seiner Schäflein nur allzu gern Anteil nimmt. Beichtstühle eignen sich offensichtlich durchaus trefflich zum Begehen von Sünden und nicht zur deren Bekenntnis. Piotr Micinski spielt den Perversling wundervoll wendig und singt ihn mit prägnantem Charakterbass. Wer bei der Zeichnung des zwielichtigen Charakters an den einflussreichen einstigen Erzbischof von Lyon, Philippe Barbarin, denken will, der kürzlich wegen Vertuschung von Missbrauchsvorwürfen zu sechs Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt wurde, dürfte da durchaus auf Linie des Regisseurs liegen, von dem die katholische Kirche an diesem Abend sehr wohl ihr Fett abkriegt.
Sahnesopran trifft Trüffeltenor
Die multiplen Schauwerte dieses ganz großen Regiewurfs gleichen nach den vier unglaublich intensiven Stunden geradewegs einer Neu-Kreation von Peter Tschaikowskys wiederentdecktem Wunderwerk. Und die Schaulust entspricht bis in die kleinste Nebenrolle hinein der Hörlust. Musikdirektor Daniele Rustioni bringt die überschäumende Partitur vollends zum Brodeln. Der Italiener demonstriert mit dem glanzvollen Orchester der Opéra de Lyon, wie sehr Tschaikowsky hier eine mitteleuropäische Oper geschrieben hat. Das passionspralle Phrasieren der schwelgerischen Melodik steht einem Puccini in Nichts nach. Die Besetzung der Hauptrollen gleicht zudem einer Sensation. Allen voran triumphiert Elena Guseva in der Titelpartie mit ihrem slawischen wie sahnigen, blühenden wie erdigen Edelsopran. Migran Agadzhanyan als Prinz steht ihr mit seinem betörendem Trüffeltenor, in dem sein Cavaradossi oder Don Josè nachklingt, in nichts nach. Auch das Fürstenpaar ist mit der Mezzowuchtbrumme Ksenia Vyaznikova und dem vielfach im italienischen Fach reüssierenden Bariton Evez Abdulla perfekt besetzt. Das Frühjahrsfestival der Opéra de Lyon beginnt mit einem Ausrufezeichen. Wo sonst wird derzeit besseres Musiktheater gemacht?
Opéra National de Lyon
Tschaikowsky: Die Zauberin
Daniele Rustioni (Leitung), Andriy Zholdak (Regie), Simon Machabeli (Kostüme), Evez Abdulla, Ksenia Vyaznikova, Piotr Micinski, Migran Agadzhanyan, Mairam Sokolova, Oleg Budaratskiy, Elena Guseva, Orchestre et Chœurs de l’Opéra de Lyon