Edle Einfalt, stille Größe. Mit Antikenfreund Goethe gesprochen lässt sich auch ein eigentlich böses Vorurteil auf den Punkt bringen, das auf Christoph Willibald Gluck und der Rezeption wie der Interpretation seiner Musik lastet. Da heißt es – nach durchaus landläufiger Meinung der Forschung – Gluck beruhige in seiner Reformoper eben all die barocken Auswüchse von üppig blühenden Verzierungen, die Ohren kitzelnden Koloraturen und anderen vokalakrobatischen Kunstfertigkeiten von Schwelltönen, enormen Intervallsprüngen und anderen eben letztlich nicht dem wahren Affekt dienenden musikalischen Rosenranken.
Reform bei Gluck soll somit heißen: zurück zum natürlichen Ausdruck, zum wahren Gefühl – und hin zu Mozarts emotionaler Authentizität und psychologischer Glaubwürdigkeit. Glucks Opern gelten als Missing Link zwischen Händels Barock und Mozarts Klassik, der Komponist als Wegbereiter in einer schillernden Unzeit zwischen den Epochen.
Leidenschaft statt Langeweile
Zumal die an deutschen Opernhäusern meist gespielte italienische Version von „Orfeo ed Euridice“, einst 1762 in Wien aus der Taufe gehoben, leistet mit ihrem wohltemperierten Lyrismus dieser (grundsätzlich ja gar nicht falschen) Einschätzung Vorschub. Eine musikalische Interpretation freilich, die sich auf dieses Gluck-Bild versteift, kann dann auch in Langeweile erstarren, statt in Leidenschaft für Überwältigung zu sorgen. Just Letzteres geschah nun an der Opéra Royal im Schloss von Versailles, in dem der Direktor von Château de Versailles Spectacles einen in dieser Form einmaligen Spielplan realisieren darf.
Laurent Brunner bringt hier neben Konzerten und konzertanten Opernvorstellungen in dieser Saison ganze 14 szenische Opernproduktionen aus Barock und Klassik in historischer Aufführungspraxis heraus – mit dem Who is Who der französischen wie der internationalen Szene all der exquisiten Ensembles der Alten Musik. Im Juni beispielsweise wird Jordi Savall, der katalanische Altmeister, Monteverdis „Orfeo“ dirigieren. Aha-Effekte gibt es im Programm von Versailles für das Publikum aus dem Ausland nicht nur hinsichtlich des sonst zumal in deutschen Spielplänen unterrepräsentierten französischen Barockopernrepertoires.
Interpretatorische Dialektik
Gerade auch die jüngste Premiere bescherte Gluck ein Glück just durch die Wahl der Fassung – nicht einfach jener in französischer Sprache, wie sie 1774 in der Académie Royale de Musique in Paris uraufgeführt wurde, sondern in der Bearbeitung durch den Romantiker Hector Berlioz. Der sorgte 1859 nach Jahrzehnten der Stille um Gluck für eine Renaissance von dessen Rezeption.
Denkt man daran, wie etwa ein Gustav Mahler die 9. Sinfonie von Beethoven bearbeitete, orchestral retuschierte und damit aus dem Geist der eigenen Zeit heraus verschlimmbesserte, mochte man Zweifel daran haben, was die Perspektive des 19. auf ein Meisterwerk des 18. Jahrhunderts an Erkenntniszuwachs einbringen möge. Der beherzte Zugriff der Historischen Aufführungspraxis und eine musikalische Neulektüre aus einer späteren Zeit scheinen sich auszuschließen: ein interpretatorischer Widerspruch?
Raffinierte Klangmalereien
Mitnichten! Die Berlioz-Ausgabe von Nicolas Sceaux im Arrangement von Raphaël Pichon möchte man nach diesem packenden Erlebnis als ideale Wahl bezeichnen, die nachgerade eine Neubewertung von Gluck ermöglicht, jedenfalls eine Weitung des Horizonts seiner weiten Wirkungsmacht. Weit dramatischer als ihre lyrische italienische Schwester weisen hier die Hell-Dunkel-Kontraste wie die raffinierten Klangmalereien weit in die Romantik voraus: hin zu Carl Maria von Weber und Richard Wagner – und zu Berlioz selbst.
Es sind mitunter nur die feinen Würzungen wie der schicksalhafte Paukenwirbel zu Beginn und der gesteigerte Einsatz des Schlagwerks, der Glucks Farbfeinheiten eine Spur deutlicher zeichnen. Während in der italienischen Fassung noch das Cembalo die Rezitative begleitet, wirken sie hier nahezu in den durchkomponierten dramatischen Fluss eingebunden, zumal die Harfe erhält eine gesteigerte Bedeutung. Die Schärfung der in der Partitur angelegten Kontrastdramaturgie aber ist nicht zuletzt dem Collegium 1704 und seinem musikalischen Leiter Václav Luks zu danken.
Das aus Prag stammende Ensemble hat mit seinem Chef schlichtweg jede Phrase energetisch durchpulst, auf seine harmonischen Wendungen hin befragt, den Rhythmus synkopisch angeschärft und die Dynamik geradezu unerhört differenziert ausgearbeitet. Da begegnen sich die Klangrede des Barock und der orchestrale Farbenzauber der Romantik auf absolut stimmige Weise. Der exquisite Chor des Ensembles vollzieht diese Variabilität prachtvoll nach. So aufregend kann Gluck klingen!
Musiktheatralische Macht der Verwandlung
Der Orphée von Gluck und Berlioz, den letzterer der spanisch-französischen Mezzo-Legende Pauline Viardot in die Stimme schrieb, gibt Marie-Claude Chappuis indes mit doch schon zu schlankem, pianozartem Sprechgesang, Mirella Hagen bietet mit ihrem edlen Sopranschimmer als Eurydice die betörendere Vokalleistung.
Aurélien Borys Inszenierung setzt ganz auf Bühnenmagie im Sinne der Archetypen von Licht und Dunkel, Oberwelt und Unterwelt, sorgt mit einem gigantischen Spiegel und einem riesigen Tuch für die musiktheatralische Macht der Verwandlung – und knüpft dezidiert an die Ur-Sage des Sängers Orpheus an, zeigt uns die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Ein Happy End ist diesem Paar auf dem Weg aus der Unterwelt nicht vergönnt. Da treffen sich Mythos und düstere Romantik.
Opéra Royal Versailles
Gluck/Berlioz: Orphée et Eurydice
Václav Luks (Leitung), Aurélien Bory (Regie & Bühne), Pierre Dequivre (Bühne), Manuela Agnesini (Kostüme), Arno Veyrat (Licht), Taïcyr Fadel (Dramaturgie), Marie-Claude Chappuis, Mirella Hagen, Claire Carpentier, Elodie Chan, Tommy Entresangle, Charlotte Le May, Lise Pauton, Margherita Mischitelli, Collegium 1704 Chor und Orchester