Der legendäre englische König Richard Löwenherz ist viel mehr als eine Legende des Mittelalters. Es gab ihn wirklich. Er zog in den dritten Kreuzzug, er kehrte lebendig aus dem Heiligen Land nach Europa zurück, er geriet hernach in Gefangenschaft des österreichischen Herzogs Leopold V., den der Engländer zuvor schwer beleidigt hatte. Nur die Art seiner Befreiung gehört ins Reich der Märchen – und des Musiktheaters. Der Troubadour Blondel de Nesle ist der Legende nach dafür verantwortlich. Auch ihn gab es wirklich, und er lebte fürwahr zu Zeiten von Richard Löwenherz – nur sind sich die beiden Herren nie begegnet. Legende und Oper verknüpfen nun aber das Schicksal der Helden und erzählen, wie der König den Troubadour an dessen Stimme erkennt und danach glückvoll von ihm befreit wird.
Diese Oper gehört zur DNA des vorrevolutionären Frankreich
André Grétry hat die Oper zur Legende geschrieben – kurz bevor die Französische Revolution der Monarchie den vorläufigen Garaus machte. Fast schon unzeitgemäß zu schön, um wahr zu sein, wird darin noch einmal die absolute Königstreue beschworen und besungen. Ja, die Arie des am liebsten Liebeslieder singenden Troubadours „O Richard, o mon Roi“ ist gar zu einer heimlichem Hymne der Royalisten mutiert, diese dichteten sie gar dergestalt um, dass nicht ein räumlich und zeitlich ziemlich ferner Engländer, sondern der letzte Ludwig als Spross einer grandiosen Dynastie darin angerufen werden konnte: „O Louis, o mon Roi“. Es heißt, loyale Offiziere intonierten die Zeilen, als Ludwig XVI. und Marie Antoinette ihr Schloss Versailles für immer verlassen mussten. Mit Fug und Recht also gehört die Oper von Grétry zur DNA des vorrevolutionären Frankreich, sie gleicht einem liebevollen Bilderbogen einer guten alten Zeit, die man indes bereits bei der Entstehung des Werks anno 1784 kaum mehr in der jüngeren Vergangenheit fand, sondern im sanft verklärten Mittelalter. Da waren Könige noch durchweg ritterlich und edel, da waren Prinzessinnen noch eindeutig hingebungsvoll schwärmerische Märchenweibsbilder.
Hingebungsvolle Prinzessinnen, ritterliche Könige
Ein entsprechendes, mit durchaus glasigen Augen gesprochenes wie gesungenes „Es war einmal“ durchzieht also Grétrys Oper, die freilich gar keine bierernste royale Huldigung betreibt, sondern als champagnerspritzige Opéra Comique (in der Pariser Institution gleichen Namens wurde sie uraufgeführt) auch einen angenehm ironischen Blick auf ihr idealisiertes Personal wirft. Eben darin liegt der Charme für eine Wiederentdeckung im 21. Jahrhundert – somit in der schmunzelnden Überzeichnung und bewussten Brechung. Im wundervoll rokokoprunkenden Opernhaus im Schloss Versailles, das just nur wenige Jahre vor der Uraufführung von Grétrys „Richard Löwenherz“ eröffnet wurde, ist „Richard Cœur de Lion“, so der französische Originaltitel, nun in einer in jeder Hinsicht liebevollen Anverwandlung zu bestaunen. Denn die Opéra Royal fordert ja geradezu dazu heraus, das in der Alten Musik zwingende Thema der historischen Aufführungspraxis über das Musikalische hinaus ins Szenische weiterzudenken. Das Theaterjuwel, das just vor 250 Jahren das Licht der Sonnenkönigswelt erblickte, was in dieser Saison ausgiebig gefeiert wird, es ist noch komplett mit der historischen Bühnen-Maschinerie ausgestattet.
Mittelalterliche Schlösser- und Burgenromantik
Spätbarockes Kulissentheater mit gemalten Prospekten ist hier also mal gar nicht museal, sondern live zu bewundern. Und es erweist sich an diesem Ort als die exakt richtige Wahl. Mittelalterliche Schlösser- und Burgenromantik paart sich in der Inszenierung des Barockspezialisten Marshall Pynkoski und seines Ausstatters Antoine Fontaine mit den fulminanten Choreografien von Jeannette Lajeunesse Zingg und den herrlichen historischen Kostümen von Camille Assaf, die den Dekolletés der Damenwelt zu ungewohnt üppiger Entfaltung verhelfen.
Maestro Hervé Niquet holt das Maximum aus Grétrys zwischen Gluck und Mozart vermittelnder Musik
Durchaus buffo-boulevardesk sorgt Regisseur Pyznkoski in diesem märchenschönen Ambiente für pralles Bühnentempo, ohne dabei die Humorschraube ungehörig zu überdrehen. Aus dem hochgefahrenen Orchestergraben, in dem das zumal mit Bläsern gar üppig besetzte Le Concert spirituel rund um Hervé Niquet geschart ist, strömt Grétrys unbändige Opern-Energie der Szene entsprechend mit fantastischem Enthusiasmus. Der Maestro peitscht geradezu durch die zwischen Gluck und Mozart anregend vermittelnde Partitur, kostet mit seinem glänzend aufgelegten Ensemble dabei aber auch das üppig Lukullische der Musik in orchestraler Opulenz aus. Hervé Niquet holt das Maximum aus Grétrys Musik, zündet immer wieder das Feuer und die rhythmische Entfesselung der Ensembles, Duette und Terzette mit ihrer aufregenden Kontrastdynamik. Auch die beseelte schlichte Schönheit der dezidiert an Mittelaltermusik anknüpfenden Lieder und Chöre lässt er berührend strömen. Aus der handverlesenen, großteils französischen Sängertruppe der Neuproduktion der Opéra Royal und von Chateau de Versailles Spectacles ragt der anschmiegsam berührende wie biegsame Tenor von Reinoud Van Mechelen als Richard ebenso heraus wie die Sopranistinnen Melody Louledjian als Laurette und Marie Perbost als Gräfin. Rémy Mathieu als Troubadour Blondel punktet als überaus wendiger Darsteller, wird so insgeheim zum Sympathieträger und zur Zentralgestalt des umjubelten Abends.
Opéra Royal
Grétry: Richard Löwenherz / Richard Cœur de Lion
Hervé Niquet (Leitung), Marshall Pynkoski (Regie), Antoine Fontaine (Bühne), Camille Assaf (Kostüme), Jeannette Lajeunesse Zingg (Choreogafie), Reinoud Van Mechelen, Rémy Mathieu, Melody Louledjian, Marie Perbost, Geoffrey Buffière, Jean-Gabriel Saint-Martin, François Pardailhé, Cécile Achille, Charles Barbier, Agathe Boudet, Virginie Lefèvre, Le Concert spirituel, Le Ballett de l’Opèra Royal