Sein oder Nicht-Sein ist bei den Aufführungen der Opernfestspiele Heidenheim zum Glück keine existenzielle Frage – und nicht einmal eine ökonomische. Die Entscheidung, ob Verdis „Don Carlo“ denn nun in der stimmungsstarken Rittersaal-Ruine der Stauferburg Hellenstein unter dem offenen Himmel der Schwäbischen Alb stattfindet oder aber im Ausweichquartier des wenige Schritte entfernt liegenden Festspielhauses CCH, basiert ganz objektiv auf den am frühen Abend aktuell gelieferten Wetterdaten. Sinkt die Temperatur bis zum Vorstellungsende unter 16 Grad Celsius können die Stuttgarter Philharmoniker ihren musikalischen Dienst nicht mehr ausüben. Oder ist die Regenwahrscheinlichkeit für den Abend zu hoch, wäre ein eventueller Vorstellungsabbruch der Open Air-Oper nicht vertretbar. Da weicht man also vorsorglich in das akustisch ebenso günstige Festspielhaus aus, in dem sogar das komplette Publikum Platz finden kann. Die Frage von „Draußen“ oder „Drinnen“ wird somit reduziert aufs Atmosphärische. Spielt der gestirnte Sommerhimmel mit – oder nicht?
Ein menschenverachtender Überwachungsstaat
Zur Folgevorstellung der Erfolgsproduktion von Regisseur Georg Schmiedleitner galt es nun, auf das Ambiente auf diesem anderen Grünen Hügel zu verzichten – und also die Adaption der Inszenierung für den Innenraum zu akzeptieren. Die Bildfindungen von Stefan Brandtmayr, die vor der imposanten Rückwand des einstigen Rittersaals sehr stark und imaginativ wirken müssen, haben im geschlossenen Raum den Touch des Plakativen: so etwa das dekonstruierte „Piece“-Zeichen, das die Freiheits- und Friedenshoffnungen von Rodrigo und Carlo symbolisieren, oder die Bildschirme, die von einem technisch perfektionierten Überwachungsstaat künden, der von einem Big Brother namens Großinquisitor vertreten wird und der hier ins Menschenverachtende wie Perverse tendiert: Der machtvolle Bass Randall Jakobsh tritt als Vertreter der katholischen Kirche in transigen Frauenkleidern (Kostüme: Cornelia Kraske), auf – ein nicht unbedingt subtiles Zeichen für den systemimmanenten Missbrauch in einem kirchlichen Machtapparat.
Schillers und Verdis Gedankenfreiheit in energetischer Entfesselung
Schmiedleitners Personenregie wiederum zeichnet die Figuren in ihrem Verstricktsein von privaten wie politischen Perspektiven mit der ihm eigenen energetischen Entfesselung. Besonders stark geraten die Portraits des furchtlosen Freiheitskämpfers Marquis von Posa, dem Ivan Thirion seinen voll- und wohltönenden Kavaliersbariton leiht. Dazu wartet der Sänger mit passend unangepasstem Langhaar als dezidiert moderne Figur auf. Ein sängerdarstellerisches Ereignis ist Zlata Khershberg, die ihren tollen Mezzosopran so flammend wie schlank führt und in der gefürchteten Brüllpartie nie bruststimmig versteift, sondern mit einer packenden Stimmerotik auflädt. Die Perücke mit ihrem unschuldsblonden Zopf wirft sie in ihren umwerfend gesungenen „O don fatale“ entnervt von sich: Die Intrigentäterin, die in Philipps Arie „Ella giammai m’amò“ als Geliebte des Königs erkennbar wird, ist selbst zum Opfer geworden. Lada Kyssy gibt ihre Gegenspielerin Elisabeth als divenhaft stolze Königin, die sich der Tragik ihres Daseins, Don Carlo nicht lieben zu dürfen, weil er durch die politisch erzwungene Heirat mit Philipp zu ihrem Sohn wurde, erst (zu) spät vollends bewusst wird. Ihr herb spitzer, kaum lyrisch anrührender Sopran schärft die illusionslose Zeichnung dieser leidenden Königin.
Mit den Mitteln der musikalischen Interpretation von Marcus Bosch wird Verdis Schilleroper genuin politisch
Elisabeths Don Carlo, der nicht der Ihre werden darf, singt Sung Kyu Park mit seinem stupend höhensicheren wie strahlkräftigen, in allen Lagen gut durchgebildeten Tenor so heldisch wie geschmeidig. An dem italienisch geschulten Koreaner werden wohl auch die größten Opernhäuser nicht mehr vorbeikommen. Wirkliche Weltklasse ist Pavel Kudinov als Philipp. Sein nobler, beweglicher Bassa cantante hat all die Farben und Zwischentöne, um den König als zwischen Staatsraison und Empathie zerrissene Figur zu zeichnen. Dass Festivalintendant Marcus Bosch Sänger dieses Kalibers zu den Opernfestspielen Heidenheim locken kann, muss damit zu tun haben, dass diese es genießen, mit dem Maestro zusammenzuarbeiten. Denn an den hier doch vergleichsweise begrenzten Gagen kann es nicht liegen, dass sie alle so gern auf die Alb (wieder-)kommen. Marcus Bosch erarbeitet seinen Verdi eben so ungleich genauer und authentischer, als dies an jenen Opernhäusern üblich ist, an denen (klangliche) Traditionen allzu oft doch nur mit Schlamperei zu tun haben. Seine forsch drängenden Tempi maximieren nicht nur die Spannung, sie basieren auf Verdis Partituranweisungen, und sie eröffnen neue Möglichkeiten, die Vorstellungen des Komponisten an geschärfter Artikulation und Phrasierungskunst beherzt in die Tat umzusetzen. Allein mit den Mitteln der musikalischen Interpretation wird Verdis Schilleroper somit genuin politisch – der Sprengstoff des Stücks wird unmittelbar hörbar. Die Stuttgarter Philharmoniker folgen Bosch so hingebungsvoll wie noch nie in den letzten Festspieljahren. Fantastisch!
Opernfestspiele Heidenheim
Verdi: Don Carlo
Ausführende: Marcus Bosch (Leitung), Georg Schmiedleitner (Regie), Stefan Brandtmayr (Bühne), Cornelia Kraske (Kostüme), Olaf Roth (Dramaturgie), Harmut Litzinger (Licht), Pavel Kudinov, Sung Kyu Park, Ivan Thirion, Randall Jakobsh, Lada Kyssy, Zlata Khershberg, Sophie Bareis, Martin Piskorski, Christoph Wittmann, Tschechischer Philharmonischer Chor Brünn, Stuttgarter Philharmoniker