Auf genau diese Art und Weise dürfte in der über 400 Jahre andauernden Geschichte der Gattung Oper noch nie eine Inszenierung entstanden sein. Und man wünscht es fürwahr niemandem, dass dieses Modell Schule macht. Kirill Serebrennikov ist Regisseur und Ausstatter der jüngsten Premiere des Opernhauses in Zürich. Doch während die Sänger, der Dirigent und das Orchester die Mozart-Neudeutung erarbeiten, befindet sich Kirill Serebrennikov rund 2500 Kilometer entfernt – in seiner kleinen Moskauer Wohnung. Dort steht der Künstler, längst eine Ikone der seitens des Kreml unter schweren Beschuss geratenen russischen-Theater-Avantgarde, unter strengem Hausarrest. Was tun?
Così fan tutte: Eine lustvolle, immer neue Volten schlagende Virtuosität paart sich mit enorm einfühlsamer Poesie
Zürichs Intendant Andreas Homoki entschied, das detailliert ausgearbeitete Konzept auf jeden Fall umzusetzen und den Premierentermin zu halten. Möglich wurde dies dank des Einsatzes eines Teams von persönlichen Assistenten des Russen, allen voran Evgeny Kulagin, der die szenischen Umsetzung mit der Akribie eines wahren Überzeugungstäters vornahm.
Das Ergebnis darf als eine Sensation bezeichnet werden. Denn hier ist eine sekundengenau getimte Produktion zu bestaunen, mit so umwerfenden Einzelheiten und Finessen sowie einer solchen lustvollen, immer neue Volten schlagenden Virtuosität, die sich dabei mit – Mozart höchst ernst nehmender – enorm einfühlsamer Poesie paart, dass die Abwesenheit des Erfinders dieses Regiewunders zwar Kollegen und Publikum bitter schmerzt – nur: man sieht diesem perfekt durchchoreografierten, vielschichtigen, einfallssprudelnd gewagten Abend in keinem Moment an, dass der eigentliche Regisseur während seiner Entstehung niemals persönlich anwesend war und auch über die üblichen Kommunikationskanäle direkt nicht erreichbar war. Das Internet ist Kirill Serebrennikov verschlossen, allein die Kommunikation mit seinem Anwalt ist ihm erlaubt. Das Opernhaus Zürich sah sich vor gigantische Herausforderungen gestellt, wurde für seinen Mut nun freilich im Übermaß belohnt. Denn diese Inszenierung macht staunen und glücklich.
Cornelius Meister dirigiert Mozart saftig und sanguinisch, emotionsprall und rund
Das Glück beginnt – mit Musik. Cornelius Meister hat den Graben weit nach oben fahren lassen und dirigiert die Philharmonia Zürich mit schneidigen Tempo-Extremen. Meisters Mozart-Klangbild ist zwar einerseits historisch informiert, knackig und schlank, andererseits so gar nicht trocken cembalozirpend (als Continuo-Instrument erklingt ein Hammerklavier), sondern saftig und sanguinisch, emotionsprall und rund. Der neue Stuttgarter GMD dirigiert keinen Mozart von der Stange, sondern wählt einen eigenwilligen, nie auf schnelles Gefallen setzenden Zugang. Jeder Takt vibriert vor Hochspannung. Da gibt es keinen Rezitativ-Leerlauf, alles lebt von der Kraft eines die szenischen Spannungsverläufe und Energien wissend mittragenden Gestalters, der den Kopf nie in die Noten steckt, denn er hat die Noten ja im Kopf. Meister hängt den Sängern an den Lippen, von denen er in jeder Phrase abliest, was sie brauchen. Er atmet mit ihnen, alles fließt spannungsgeladen.
Genialischer Gegenwartsbezug der Regie
So wird der Dirigent zum perfekten Partner eines trotz Abwesenheit anwesend wirkenden Regisseurs, der von seinen Darstellern viel, sehr viel verlangt. Denn eine so alle „Così fan tutte“-Klischees tilgende und durch radikalen wie genialischen Gegenwartsbezug ersetzende Regie, die dann auch noch wunderbar mit der Musik harmoniert, hat es bislang kaum je gegeben. Serebrennikov findet dabei zu bislang völlig neuen Lösungen für die Unwahrscheinlichkeiten dieses brutal bösen Bäumchen-wechsle-Dich-Experiments des Duos Da Ponte und Mozart.
Die verführerischen Vertreter der Liebeskunst sind Doppelgänger der der Freunde Ferrando und Guglielmo
Avatare nennt der Regisseur die Doppelgänger der Freunde Ferrando und Guglielmo. Zwei stumme Schauspieler also werden von den in hier einmal tatsächlich in den Krieg ziehenden Partnern von Dorabella und Fiordiligi vorgeschickt, um die beiden Damen zu verführen. Der baritonvirile Andrei Bondarenko und der tenorfeinschmelzende Frédéric Antoun leihen folglich den verführerischen Vertretern der Liebeskunst ihre Stimmen, was durch das Bühnenbild erleichtert wird.
Die zwei Etagen eines Fitnessstudio repräsentieren zunächst die weibliche und männliche Sphäre des Geschehens. Unten trainieren Ferrando und Guglielmo mit Don Alfonso, dessen Zynismus psychologisch erklärt wird: Gerade hat ihn seine Freundin über What‘s App verlassen, jetzt will er in einer Wette den glücklich verliebten Kollegen beweisen, dass alle Frauen untreu sind. Oben kommen die Damen gerade aus der Sauna.
Ferrandos orientalische Vierteltöne
Das Experiment funktioniert. Videos vermitteln uns, dass die ins Militär eingezogenen Jungs gefallen sind, zwei Urnen zieren das nun auf der untere Ebene eingerichtete Designerloft der Damen, Despina (Rebeca Olvera) fungiert als Psychiaterin.
Dann erscheinen zwei Öl-Scheichs, die den selbstsicher agierenden Mädels alsbald zeigen, wo der Hammer hängt. Der echte Ferrando mischt seinem Gesang derweil aus dem zweiten Stock orientalische Vierteltöne bei. Und es entwickelt sich ein fürwahr verwickeltes Spiel, in dem stets die beiden Männerpaare anwesend sind und geschickt in der Schwebe gehalten wird, ob Ferrando und Guglielmo denn nun wirklich gestorben sind und wer die beiden anderen Kerle sind: Bloße Projektionen in einer digitalen Liebes-Welt?
Es kommt zur muselmanischen Hochzeit, zu der die zuvor so emanzipierten Damen regelrecht eingeschnürt werden. Und was das Publikum sonst nur imaginieren darf, wird zuvor einmal wirklich gezeigt. In ihrem oben gelegenen Schlafzimmer gibt sich Dorabella dem Eindringling zuerst und nur zu gern hin, und sie hat sichtlich wie hörbar Freude dabei. Unten ziert sich Fiordiligi noch. Dabei wird der für die Gattung Oper gar nicht unerheblichen Frage nachgegangen: Wie verhalten sich Singen und Sex eigentlich zueinander?
Zum Vollzug der Untreue gehören auch Männer
Die Antworten sind nicht zuletzt deshalb erkenntnisfördernd, da sich in Zürich ein fulminantes junges Ensemble Mozarts Musik und Serebrennikov Regie hingibt. Da machen die Sopranzauberin Ruzan Mantashyan als Fiordiligi und die mit dramatischem Furor aufwartende Mezzowucht Anna Goryachova als Dorabella eben auch sehr leicht bekleidet eine Bella Figura. Und Michael Nagy verdeutlicht mit seinem bassbaritonale Klangpracht und präzise Diktion ideal auspendelnden Don Alfonso, dass der alte Zyniker sehr wohl noch voll im Saft steht, wohl wissend, dass zum Vollzug der Untreue doch auch Männer gehören: Er korrigiert Mozarts titelgebendes „tutte“, will sagen: „So machen’s alle Frauen“, am gar nicht frohen und auch musikalisch überraschenden Ende in „tutti“.
Opernhaus Zürich
Mozart: Così fan tutte
Cornelius Meister (Leitung), Kirill Serebrennikov (Regie, Bühne & Kostüme), Evgeny Kulagin (Umsetzung Inszenierung), Nikolay Simonov (Mitarbeit Bühne), Tatiana Dolmatovskaya (Mitarbeit Kostüm), Franck Evin (Licht), Ilya Shagalov (Video), Ruzan Mantashyan, Anna Goryachova, Andrei Bondarenko, Frédéric Antoun, Rebeca Olvera, Michael Nagy, Philharmonia Zürich