Der Intendanten-Nachfolger inszeniert am Haus seines Vorgängers. Der eine ist Barrie Kosky und erfolgreicher Chef der Komischen Oper in Berlin. Der andere Andreas Homoki, der gerade verlängerte Intendant des Opernhauses Zürich. Die erste Überraschung bei der jüngsten Premiere von Franz Schrekers „Die Gezeichneten“ am viel produzierenden Schweizer Opernhaus ist die Bühne von Rufus Didwiszus. Sie ist schlicht und hell, ja geradezu aseptisch. Was bei einem Stück, in dem es ausdrücklich um Ausschweifungen und deren Folgen geht, verblüfft.
Dass Klaus Bruns Kostüme gemacht hat, die jede Fine-de-Siècle Zeitgeistigkeit oder jeden Renaissanceverdacht von sich weisen und auf eine unbestimmte Gegenwart zielen, passt dazu. Hier ist es schon der Höhepunkt an Opulenz, wenn die Bühne wie ein üppig bestücktes Schaudepot mit Exemplaren griechischer Marmorschönheiten in allen Varianten vollgestellt ist. Erst dreht sich ein einsamer Torso auf einem Sockel. Dann ist die Bühne gefüllt mit zig Exemplaren aus wohlgeformtem weißen Gips. Die Künstlerin ist hier eher Bildhauerin als Malerin. Sie erschafft dem Helden der Geschichte zwei Hände, denn seine Missbildung besteht darin, dass er nur noch Armstümpfe hat.
Gewinn- und Verlustrechnung einer Regie-Entscheidung
Vielleicht ist Kosky ja, der auf die drastische Reduzierung der ästhetischen Mittel und der Konzentration der Geschichte auf die Beziehungshauptstränge setzt, dazu inspiriert worden, es radikal „anders“ zu machen, als in der letzten Spielzeit Calixto Bieito an der Komischen Oper „Die Gezeichneten“ inszeniert hat. In Zürich greift Kosky auf seinen einmal beschlossenen Weg entschieden zu. Der Lohn ist eine klar und deutlich erzählte Fabel. Der Preis ein gewisser Verlust am Drumherum des Geheimnisvollen und untergründig Brodelnden, der – beim vom Komponisten selbst verfassten (Libretto-)Wort genommen – doch recht kruden Geschichte.
Wenn ein Motto todernst genommen wird: „Die Schönheit wird die Beute des Starken“
In dem 1918 uraufgeführten Dreiakter Franz Schrekers (1878-1934) übt sich die Malerin Carlotta bei ihrer Begegnung mit dem hässlichen Schöngeist Alviano gleichsam als Psychotherapeutin. Der überlebt in einer Welt der Reichen und Schönen nur als Künstlerexistenz. Immer zwischen seinem Selbsthass und dem zweifelhaften Ruhm, den ihm das selbst erschaffene, künstliche Elysium verschafft. Es ist eine Insel der Sinnenfreuden vor den Toren der Stadt. Seine adligen Kumpanen missbrauchen sie als Lasterhöhle. Dorthin werden junge Frauen verschleppt, missbraucht, ja ermordet. Aus purer Lust. Das Motto „Die Schönheit wird die Beute des Starken“ hat Alviano selbst ausgegeben, die anderen nehmen es todernst, machen aus dem Paradies der geheimen Lustgrotte eine Art Hölle für die Frauen. Als Alviano die Insel allen zugänglich machen will, lässt sich Nichts mehr unter der Decke halten. Der öffentliche Skandal und eine Anklage Alvianos durch den Herzog Adorno ist unvermeidlich. Die Obrigkeit muss reagieren. Doch sein ausgesprochener Bann verpufft in einem Gemisch von Entrüstung und klammheimlicher und offener Akzeptanz dieses Irrgartens der Lüste.
Ein grotesker Moment von Erfüllung
So ist es eigentlich. Kosky konzentriert die Handlung – im Gegensatz dazu – vor allem auf ein Beziehungsdreieck. Das hat Vorteile, weil man den Eindruck einer klar erzählten Geschichte bekommt. Aber auch den Preis, dass das Gesellschaftsporträt, das im Hintergrund mitschwingt, szenisch nur Andeutung bleibt. Da ist zum einen also die Beziehung zwischen Künstler und Modell. Hier in der exklusiven Konstellation, dass die Frau eine von Krankheit gezeichnete Bildhauerin und der Mann das von einer Missbildung gezeichnete Modell ist. Für das Atelier sind die Skulpturen beiseite geräumt und Carlotta macht sich an einem nassen Tonklumpen zu schaffen, während ihr Modell wie eine Figur von Stephan Balkenhol auf einer Drehscheibe posiert. Sie wendet sich ihm als Künstlerin zu, kommt ihm in der Arbeit näher und erschafft für ihn bis an die Grenze ihrer körperlichen Kraft neue Hände. Es ist ein grotesker Moment von Erfüllung, Nähe, aber auch von vollendendem Abschluss, wenn sie ihm die künstlichen Hände auf seine Armstümpfe drückt. Gegen die charismatische Machoausstrahlung von Tamaro aber, der Carlotta notfalls auch mit Gewalt erobern würde, hat Alviano keine Chance.
Dass man in Zürich den Eindruck hat, dass er das ganze Elysium-Geheimnis nur deshalb dem Herzog offenbart, um den Nebenbuhler auszuschalten, wirkt da etwas zu kurz gegriffen. Tamaro ist die Personifizierung jener Stärke, die sich die Schönheit als Beute unterwirft, und Alviano hätte wohl auch ohne seine körperliche Missbildung nicht wirklich eine Chance bei Carlotta. Am Ende flüchtet Alviano in eine andere Welt. Er erstarrt als das Kunstwerk, das Carlotta in ihm gesehen hat.
Vladimir Jurowski am Pult geht den Weg Richtung Klarheit und Konzentration voll mit
Vladimir Jurowski ist ein musikalischer Wunschpartner Koskys im Graben. Und so geht auch er den Weg Richtung Klarheit und Konzentration voll mit. Weder auf der Bühne noch – bildlich gesprochen – im Graben sorgt hier eine Gaze für Diffuses. Jurowski setzt auf eine entfesselte Opulenz, die die gewaltigen Klangwolken ziehen lässt und nicht zu bändigen versucht. Im Opernhaus in Zürich kommen vor allem an Richard Strauss geschulte Freunde der postspätromantischen Orchesterextasen, trotz deutlicher Striche, voll auf ihre Kosten.
Ein handverlesenes Schreker-Ensemble
Ein Klasse für sich ist das Protagonisten-Ensemble. Handverlesen bis zum letzten Senator spielen vor allem John Daszak als Alviano und Catherine Naglestad als Carlotta ihre Erfahrungen mit ihren Rollen voll aus. Daszak ist dabei auch körperlich voll gefordert. Albert Pesendorfer ist ein eindrucksvoller Podestà und Christopher Purves ein elegant schlitzohriger Herzog Adorno. Das auch vokal überzeugendste Porträt gelingt Thomas Johannes Mayer. Er vermittelt die Anziehungskraft seines Tamare auf Carlotta nicht durch vokale Kraftmeierei, sondern setzt auf die Verführung vokaler Eleganz. Dass er damit ein Stück weit das nach außen Gekehrte der Inszenierung unterläuft, gereicht ihr gleichwohl zum Vorteil. Seinen Zürcher „Macbeth“-Coup toppt Kosky diesmal freilich nicht.
Opernhaus Zürich
Schreker: Die Gezeichneten
Vladimir Jurowski (Leitung), Barrie Kosky (Regie), Rufus Didwiszus (Bühne), Klaus Bruns (Kostüme), Franck Evin (Licht), Christopher Purves, Thomas Johannes Mayer, Albert Pesendorfer, Catherine Naglestad, John Daszak, Paul Curievici, Iain Milne, Oliver Widmer, Cheyne Davidson, Ildo Song, Ruben Drole, Jungrae Noah Kim, Thobela Ntshanyana, Sen Guo, Nathan Haller, Dean Murphy, Alexander Kiechle, Philharmonia Zürich
Sehen Sie den Trailer zu Schrekers „Die Gezeichneten“ am Opernhaus Zürich: