Das Fin de Siècle ist modrig, morbid und riecht streng – zumindest in der Lesart Dmitri Tcherniakovs, der am Opernhaus Zürich Erich Wolfgang Korngolds Ausnahmewerk „Die tote Stadt“ auf die Bühne brachte. Eine Überzeichnung, gewiss, doch der russische Regisseur, bekannt für seine psychologische Tiefenschärfe im Musiktheater der Jahrhundertwende, interessiert sich mehr für die inneren Abgründe seiner Figuren als für deren äußeres Umfeld.
Nicht der überkommene geheimniskrämerische, impressionistisch-symbolistische Schleier, mit dem George Rodenbach seine Romanvorlage umgibt, reizt ihn, sondern die Freud’schen Triebe und das Unbewusste. So schwebt in Zürich eine Altbauwohnung entrückt über dem Bühnenboden. Die Stadt: entmaterialisiert, bedeutungslos. Entscheidend ist, was sich hinter diesen Wänden abspielt: Die Neigung des Protagonisten dazu, Kleider, Haare, gar den Duft seiner verstorbenen Frau Marie als Reliquien in seiner Wohnung zu konservieren, und seine wachsende Obsession, in der Tänzerin Marietta deren Wiederkehr zu wähnen, mit tödlicher Konsequenz.

Komplexe Regie – teilweise zu sehr um die Ecke gedacht
Tcherniakov entreißt dem Werk nicht nur sein Erdgeschoss, sondern gleich ganz Brügge. Das Erdgeschoss ist nunmehr ein waberndes Nichts, ein öffentlicher abstrakter Raum (mit Rollschuhbahn), in welchem Pauls Bekannte agieren, oder schließlich jenes geistige Kellerloch, auf das noch der vorangestellte hinzugedichtete Prolog mit dem Auszug aus Dostojewskis Werk „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ verweist.
Für den Regisseur ist Rodenbachs morbider Charme offensichtlich schlecht gealtert. Die Tendenz Pauls zur Nekrophilie, die Verklärung – passé. Stattdessen gelingen ihm eindrückliche, mitunter makaber-komische Bilder. So tilgt er neben Brügge den erzkatholischen Geist der Stadt gleich mit, ersetzt diesen durch ein karnevaleskes Pseudoritual in Pauls Wohnzimmer.

Lorenzo Viotti mit erfrischend geistreichem Dirigat
Doch darf eine Inszenierung ihre Idee derart kompromisslos der Musik aufdrängen – zumal nicht selten unter Missachtung des Librettos? Lorenzo Viotti, als Gast am Pult, hält glücklicherweise mit klingender Vehemenz dagegen. Wo der trockene Regiehumor im eintönigen Bühnenbild versandet, lässt Viotti das Orchester in leuchtendem Esprit aufblühen. Bereits die ersten Takte geraten unter seinem prägnanten Dirigat fulminant – ein verheißungsvoller Auftakt zu einer fein nuancierten Interpretation.
Die Philharmonia Zürich meistert die eruptiven, schillernden Klangwellen Korngolds mit beachtlicher Präzision. Viotti kostet die Wiener Melancholie voll aus, wagt den süßlich-verklärenden Schmelz, wo der Komponist sein späteres Hollywood-Schaffen vorausahnen lässt. Was bei Rodenbach literarisch angedeutet und von Korngold auskomponiert wird, lässt der Schweizer Dirigent klanglich überzeugend explodieren: flirrende Staubwirbel aus Musik, dunkle Glockenklänge, synästhetische Klanglandschaften. Dennoch verschläft das Ensemble nie jene überraschend fluiden Übergänge von Ekstase zur Psychose, etwa wenn sich abzeichnet, dass Marietta nicht bereit ist, für Paul nur den unvollkommenen Ersatz seiner verstorbenen Frau zu spielen.

Dunkler Heldentenor und geniale sängerdarstellerische Leistungen
Nicht nur das Dirigat findet zu einer unverkennbar profilierten Sprache, die vier Hauptpersonen ziehen hier gleich. Eric Cutler überzeugt als Paul mit einem für einen Heldentenor ungewöhnlich dunklen Timbre – ideal für diese Figur, ob nun misogyner Herrschaftssucht (im Sinne Tcherniakovs) verfallen oder lethargischer Melancholie (im Sinne Rodenbachs). Sein Gesang spricht, wo Spiel überflüssig wird: kraftvoll, nuanciert, aus innerer Zerrissenheit heraus. Seine Ariosi gelingen eindrücklicher als die rhythmisch komplexen rezitativischen Dialogpassagen.
Vida Miknevičiūtė interpretiert in Tcherniakovs Konzept gleich drei Varianten der Marietta, deren Reife und Selbstbewusstsein im szenischen Verlauf wachsen. Lyrisch zunächst unscheinbar, avanciert ihr sängerdarstellerischer Sopran zu einer stimmlichen Offenbarung. Vor allem in jenem Moment stiller Kälte, da klar wird: Paul will aus Marietta ein zweites Abbild der Verstorbenen formen – also sie töten. Miknevičiūtė wechselt dabei mit faszinierender Präzision vom szenischen zum vokalen Ausdruck.

Am Ende herrscht Einigkeit
Auch die Nebenrollen verdienen Beachtung. Evelyn Herlitzius verleiht Brigitta mit episch aufgeladenem Mezzosopran Gravitas, während Björn Bürger als Frank den feinsinnigen, lyrischen Bariton liefert, den Cutlers Rolle nicht zulässt.
Tcherniakovs Regie verweigert den versponnenen Traum zwischen Grachten und Backsteingiebeln – Korngolds Musik jedoch beschwört ihn umso stärker. Am Ende bleibt Paul allein mit der Frage: Was war Traum, was Wahn? Tröstlich immerhin, dass sich Rodenbach und Tcherniakov hier einig zu sein scheinen: Die Frau ist und bleibt tot.
Opernhaus Zürich
Korngold: Die tote Stadt
Lorenzo Viotti (Leitung), Dmitri Tcherniakov (Regie), Elena Zaytseva (Kostüme), Gleb Filshtinsky (Lichtgestaltung), Tieni Burkhalter (Video), Ernst Raffelsberger (Chor), Beate Breidenbach (Dramaturgie), Eric Cutler, Vida Miknevičiūtė, Björn Bürger, Evelyn Herlitzius, Kinder- und Zusatzchor der Oper Zürich, Philharmonia Zürich
Termintipp
Fr., 25. April 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Korngold: Die tote Stadt
Eric Cutler (Paul), Vida Miknevičiūtė (Marietta/Marie), Björn Bürger (Frank/Fritz der Pierrot), Evelyn Herlitzius (Brigitta), Rebeca Olvera (Juliette), Siena Licht Miller (Lucienne), Lorenzo Viotti (Leitung), Dmitri Tcherniakov (Regie)
Termintipp
Fr., 02. Mai 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Korngold: Die tote Stadt
Eric Cutler (Paul), Vida Miknevičiūtė (Marietta/Marie), Björn Bürger (Frank/Fritz der Pierrot), Evelyn Herlitzius (Brigitta), Rebeca Olvera (Juliette), Siena Licht Miller (Lucienne), Lorenzo Viotti (Leitung), Dmitri Tcherniakov (Regie)
Termintipp
Di., 06. Mai 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Korngold: Die tote Stadt
Eric Cutler (Paul), Vida Miknevičiūtė (Marietta/Marie), Björn Bürger (Frank/Fritz der Pierrot), Evelyn Herlitzius (Brigitta), Rebeca Olvera (Juliette), Siena Licht Miller (Lucienne), Lorenzo Viotti (Leitung), Dmitri Tcherniakov (Regie)
Termintipp
Fr., 09. Mai 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Korngold: Die tote Stadt
Eric Cutler (Paul), Vida Miknevičiūtė (Marietta/Marie), Björn Bürger (Frank/Fritz der Pierrot), Evelyn Herlitzius (Brigitta), Rebeca Olvera (Juliette), Siena Licht Miller (Lucienne), Lorenzo Viotti (Leitung), Dmitri Tcherniakov (Regie)
Termintipp
Sa., 17. Mai 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Korngold: Die tote Stadt
Eric Cutler (Paul), Vida Miknevičiūtė (Marietta/Marie), Björn Bürger (Frank/Fritz der Pierrot), Evelyn Herlitzius (Brigitta), Rebeca Olvera (Juliette), Siena Licht Miller (Lucienne), Lorenzo Viotti (Leitung), Dmitri Tcherniakov (Regie)