Die Uraufführung der am Anfang des 20. Jahrhunderts entstandenen Oper „Die heilige Cäcilia“ von Anton Urspruch (1850-1907) hätte seine nächste Wiederentdeckung mit dem pianopianissmo musiktheater werden sollen. Der Regisseur, Dramaturg, Musikwissenschaftler und vor allem der Opernentdecker Peter P. Pachl (geboren am 24. April 1953 in Bayreuth) starb am 15. November 2021 – aus den Proben gerissen – im Alter von 68 Jahren nach kurzer schwerer Krankheit. Jede Produktion von Opern Siegfried Wagners in den letzten 50 Jahren ist mit seinem Namen und seinen Initiativen verbunden, darunter die Uraufführung von „Die heilige Linde“ in der Kölner Philharmonie 2001 mit einem Internationalen Siegfried-Wagner-Symposium und die Uraufführung von „Das Flüchlein, das jeder mitbekam“ in Kiel 1984.
Im Schwulen Museum Berlin kuratierte Pachl 2017 mit Achim Bahr und Kevin Clarke die international gerühmte und viel diskutierte Ausstellung „Siegfried Wagner: Bayreuths Erbe aus andersfarbiger Kiste“. In den letzten Jahren widmete sich Pachl der Einspielung von Melodramen der Spätromantik, der frühen Moderne und der Brettl-Kultur um 1900. Wie nebenbei war er der Herausgeber von Kompositionen wie „Paradise Lost“ von Clement Harris, Ludwig Thuilles Kantaten-Burleske „Fridolin“ oder Einlage-Arien des jungen Richard Wagner. Parallel zu den Bayreuther Festspielen etablierte Pachl unter den erschwerten Bedingungen der Pandemie die „kleinen Siegfried-Wagner-Festspiele“.
Katharina Wagner lobt Pachls Einsatz für ihren Großvater Siegfried
„Der Friedensengel“ in der Bayreuther Kulturbühne Reichshof im August 2021 wurde seine letzte abgeschlossene Inszenierung. „Ich war sehr dankbar für diese Leidenschaft von Peter P. Pachl und diesen Fokus, da neben dem Werk Richard Wagners nun auch das von Siegfried in Bayreuth gewürdigt wurde.“, lobt Katharina Wagner dieses einzigartige Engagement. pianopianissimo musiktheater und die Internationale Siegfried Wagner Gesellschaft mit ihrem Präsidenten Frank Strobel beraten im Dezember über die Realisierung der von Peter P. Pachl eingeleiteten Projekte: Die Produktionen von Siegfried Wagners „Herzog Wildfang“ in Bayreuth 2022 und dessen „Bärenhäuter“ 2023 in Odessa. Wir trauern mit der Witwe Angelika Pachl-Mix und seinen Angehörigen um einen außergewöhnlichen Menschen und Künstler, der die Musiktheaterszene in den letzten 45 Jahren mit Humanität, hintergründigem Witz, nicht immer widerspruchsfreien Sichtweisen und brennender Passion erfüllte.
Uraufführung nach 115 Jahren
„Die heilige Cäcilia“ hätte die bislang größte Produktion Pachls nach der Aufführung von Max Reinhardts Stummfilm „Das Mirakel“ mit der von den Berliner Symphonikern gespielten Musik von Engelbert Humperdinck 2016 werden sollen. Das Gaskraftwerk in der Heinrichshütte Hattingen war für ein Großprojekt wie die Uraufführung der „größten Choroper des 20. Jahrhunderts“ das angemessene Ambiente. Draußen strahlten die Industrieanlagen in den Abendstunden als „Magischer Lichterpark“. Die drei Vorstellungen der dritten Oper des Liszt– und Raff-Schülers Anton Urspruch (1850-1907), der am Hochschen Konservatorium in Frankfurt am Main ein Klavierkollege Clara Schumanns war, enden mit einer Festaufführung am 22. November zum Namenstag der titelgebenden Heiligen. Mittels der Software Sibelius generierte Ulrich Leykam bei den letzten Produktionen des ppp musiktheaters die von ihm selbstdirigierten und während der Vorstellungen zum Live-Gesang in passende Klangrelationen gebrachte Zuspielungen.
Virtuelle Schaubühne
Mit tobender Ideenfülle streute Pachl gern doppeldeutige Szenen- und Materialschlachten. Zu einer solchen hätte auch „Die heilige Cäcilia“ werden sollen. Die pandemische Realität vereitelte das jedoch. Drei große Chöre waren in Hattingen geplant für das Sakralopus, dessen Text Anton Urspruch selbst verfasst und von dem er die Instrumentation nur des ersten Aktes für eine geplante Aufführung vollendet hatte. Alle Chöre sagten der Reihe nach seit Frühjahr 2021 ab. Dafür gewann das ppp musiktheater neben 11 Mitwirkenden für die kleineren Solopartien einen zwölfköpfigen Projektchor, der auf dem Podium im Rahmen der Hygienekonzepte agieren konnte. Dominikus Burghardt leistete mit dem Ensemble nicht nur gemessen am Rekord-Umfang der Chorpartien, sondern auch betreffend dessen mehrfach geteilten Stimmgruppen, Immenses. Als Pachl die Proben nicht mehr weiterführen konnte, stürzte sich der Regieassistent Chang Tang mit dem Mut der Verzweiflung in die Regie.
Die römischen Christen wurden, in Projektionen von Buchenwald und historischem Filmmaterial der gewaltsamen Abtransporte verdichtet, auch als Opfer des Holocaust erkennbar. Im Rückblick auf die sich nach 1900 bündelnden Kraftfelder faschistischer Ideologien ist die sakrale Oper des Sohnes eines protestantischen Vaters und einer zum Katholizismus konvertierten Jüdin tatsächlich bedenklich. Der Trevi-Brunnen wird zur virtuellen Schaubühne. Anstelle einer christlichen Verklärung steht die das Finale aus dem nur-christlichen Kontext ziehende und panreligiös deutbare Himmelsscheibe von Nebra.
Animalisch-ethische Sprunghaftigkeit
Man saß zu entfernt in dem riesigen Areal, als dass die mit Robert Pflanz entwickelte Assoziationsenergie aus historischem, künstlerisch modelliertem und auch Uralt-Pornos nutzendem Material zum Spiegel des menschlichen Seins und dessen animalisch-ethischer Sprunghaftigkeit hätte werden können. Im letzten Akt folgen auf Cäcilias langen Harfen-Schlussgesang ein gefühlt viertelstündiger Trostchor sowie ein in Wagners „Götterdämmerung“-Farben glühender Schuld- und Sühne-Monolog ihres Fast-Vergewaltigers Almachius. Uli Bützer singt diesen mit prachtvoll gesundem Bariton. Anstelle des erkrankten Hans-Georg Priese stürzte sich Marco Antonio Lazano in die erwartbar strapaziöse Tenor-Partie von Cäcilias heldischem Bräutigam Valerian. Im einem „Tristan“-Dimensionen erreichenden Duett bekehrt Cäcilia den ihr zugedachten römischen Helden zum wahren Glauben. Mit „Die heilige Cäcilia“ endet der heute leider kaum noch erkennbare Trampelpfad der deutschen Grand Opéra von „Santa Chiara“ von Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha über Aberts „Ekkehard“ zu Urspruch.
Legionäre mit Lycrashorts
Die Kostüme von Christian Pflanz sind Patchwork und textiles Puzzeln, das Bettwäsche zu Herrschermänteln zaubert und stramme Legionäre mit Lycrashorts ausstaffiert. Cäcilia, die Heilige, ist der leuchtende Komet in diesem klerikalen Karneval und ein weiterer Glanzpunkt für Rebecca Broberg, ohne die seit Siegfried Wagners „Der Kobold“ im Stadttheater Fürth kaum eine Pachl-Inszenierung auskam. Broberg hat in Deutschland derzeit von allen Sängerinnen das auffälligste und ausgefallenste Repertoire. Zu diesem gehören Partien wie Kaiserin Irene in „Sonnenflammen“ oder die sich liebend verschenkende Mita in „Der Friedensengel“. Eine Muse in hoher Bedeutung dieses Wortes.
pianopianissimo musiktheater im Auftrag der Anton Urspruch-Gesellschaft e. V.
Urspruch: Die heilige Cäcilia
Ulrich Leykam (Leitung), Chang Tang & Peter P. Pachl (Regie), Robert Pflanz (Bühne), Christian Bruns (Kostüme), Dominikus Burghardt (Chor), Günther Neumann, Martina Bauer, Felix Lehmann (Licht), Achim Bahr (Dramaturgie), Rebecca Broberg, Marco Antonio Lazano/ Hans-Georg Priese, Reuben Scott, Uli Bützer, Axel Wolloscheck, The Bayreuth Digital Orchestra, Urspruch-Projektchor 2021