Mehrere Opern Siegfried Wagners haben die Funktion und Wirkung eines biographischen und erotischen Pulverfasses. Aber „Der Friedensengel“ ist fast ein Atompilz. Im Falle der ersten vollständigen Aufführung nach der Uraufführung 1926 in Karlsruhe und einer konzertanten Produktion in London 1975 (damals noch unter organisatorischer Mitwirkung von Siegfrieds und Winifred Wagners Tochter Friedelind) gerät die biographische Spurensuche besonders prickelnd und stellenweise tabulos.
Text und Musik von „Der Friedensengel“ entstanden ein Jahr vor der Verheiratung von „Deutschlands begehrtestem Junggesellen“ mit Winifred Williams. Seit den Enthüllungsattacken Maximilians Hardens 1908 drohte Siegfrieds Homosexualität das allgemeine Image der Familie Wagner und der Bayreuther Festspiele zu beschädigen. Zum Zeitpunkt der Uraufführung 1926 hatte Siegfried seinen vierfachen Beitrag zum Erhalt der Dynastie vom Grünen Hügel geleistet. Aber da war der musikalische Kurs ein anderer als vor dem Ersten Weltkrieg. Im musikalischen Pluralismus von Atonalität, Neoklassizismus, frei tonaler Sachlichkeit und Zeitoper hatte der trotz moderner und tonaler Erweiterungen immer der Spätromantik verpflichtete Kompositionsstil Siegfrieds schlechte Chancen. Die Zeitgenossen wollten ebenso wie die Wagners selbst nicht wahrnehmen, dass Siegfried den Spätstil seines Vaters nur in fatalen Szenen paraphrasierte, an Lichtpunkten seiner Opern und Instrumentalwerke wie dem wunderschönen Violinkonzert aber im Geiste eher bei Schubert und Humperdinck war. Der außerordentlich gebildete Humperdinck-Schüler, der seine volkstümelnden Genreszenen mit Nadelstichen und Faustschlägen gegen die Idyllen unterfütterte, machte es dem Publikum nicht leicht.
Rasante Lust an visueller Überfülle
Mit einem solchen Werk gewinnt man bei Intendanzen und das Riskante scheuenden Dirigentenpersönlichkeiten keine Sympathien. Das gilt nicht nur für die Szene mit der Diskussion, ob Selbstmörder ein Begräbnis in geweihter Friedhof-Erde erhalten dürfen. Klar auch, warum Winifred Wagner den „Friedensengel“ von Siegfrieds Opern wahrscheinlich am wenigsten mochte: Welche Ehefrau würde sich schon gern als „guter Drache“ und Aufpasserin ihres bei allen Geschlechtern schwadronierenden Gatten inthronisieren lassen?
Für die Wiedergabe einer solchen Monsteroper im für Musiktheater unspezifischen Raum der Bayreuther Kulturbühne Reichshof braucht es neben Enthusiasmus eine Portion Verrücktheit. Die 2022 ihr 50-jähriges Jubiläum feiernde Internationale Siegfried-Wagner-Gesellschaft kompensiert das von Ulrich Leykam in immenser Arbeit programmierte und bei den Aufführungen dirigierte digitale Orchester mit einer Ausstellung zum Stück im Pianohaus Steingräber, einer brennend fundierten Einführung von Claus Frankl, einer opulenten Broschüre und vor allem einem leidenschaftlichen 17-köpfigen Ensemble mit stellenweise imposanten Leistungen. Zwar ist Siegfried Wagner kein Stimmkiller, aber ein äußerst anspruchsvoller Stimmanwender. Mindestens vier Partien im „Friedensengel“ enthalten sattes Sängerfutter.
Ein physisches Symphonieorchester klingt generell doch besser, aber die niedrige Reichshof-Raumdecke ermöglicht eine vom Ensemble super genutzte Textverständlichkeit. Der musikalischen Beschränkung begegneten Regisseur und Gesamtleiter Peter P. Pachl und der Video- und Bühnengestalter Robert Pflanz mit rasanter Lust an visueller Überfülle. Sie stürzten sich in eine Übertreibungsorgie, welche den ernsten Kern des Stücks umso deutlicher an die szenische Oberfläche drückte.
Polyamourös bis zum Selbstmord
Kann Übertreibung Sünde sein? – Mitnichten, hier wird sie zur ästhetischen Rettung: Der den ganzen Abend minimal blecherne, aber im Umgang mit dem Ensemble durch Leykam sehr sensibel gehandhabte Orchesterklang reizt zum bizarren Opern-Overkill. Also dringen während des Abspanns wie in einer SF-Serie der 1970er Jahre Weltraumreisende in weißen Schutzanzügen in einen leeren Raum mit Bücherstapeln. Sie lesen, wie es war im Anthropozän bis zur atomaren Auslöschung des sog. Homo sapiens. Diese vorgefundenen Wissenssplitter ereignen sich dann. Video-Sturmfluten überholen sogar die reißende Handlungsdichte und -geschwindigkeit von Siegfrieds Oper. Im Kern geht es bei Siegfried um zwei Männer, die sich in ihren heteronormativen Ehen sexuell, emotional und energetisch nicht ausgelastet fühlen. Deshalb techteln, tändeln und kosen sie mit der gleichen Geliebten, der bei Gutbürgerlichen verrufenen Mita. Willfried (Giorgio Valenta) sagt sich von seiner Frau Eruna (passend kräftig und zehrende Töne von Julia Reznik) los. Er bringt sich um, selbst als Mita ihn nicht auf dieser letzten Reise begleiten will. Willfrieds Mutter Kathrin (Maarja Purga agiert bewegend in der 1975 von Martha Mödl gesungenen Partie) verschleiert den Suizid und bezichtigt deshalb Mita des Mords. Diese flieht erst in ein Kloster und flüchtet alsbald von dort, weil sie mit der Askese nicht klarkommt und auch sonst noch etwas Spaß braucht. Ihr Liebhaber Raimund heiratet und will außerdem nicht von seiner Berufung als multisexueller Menschenbeglücker absehen. Aber jede Generosität hat Grenzen: Mann darf Promiskuität, Frau aber nicht.
Menschliche Trieb- und Treibhauseffekte
Rebecca Broberg singt die Hauptpartie mit dem hitverdächtigen Friedensgesang der Klosterflüchtigen flutend, pathetisch, innig. Für Pachl und das Ensemble steckt des Handlungsrätsels Lösung in einer ganz einfachen Ergänzung. Sie gesellen den am Ende zum auferstehenden Heiland werdenden Epheben Mitja zur wie eine abgestürzte Krankenschwester durchs ländliche Geschehen (lust-)wandelnden Mita. Der Mitja macht alles klar: Einerseits haben Mathis Bargels Gesichtszüge frappierende Ähnlichkeit mit denen auf Knabenfotos von Siegfried Wagner. So wird kenntlich, wie Dichterkomponist Wagner II. in „Der Friedensengel“ mögliche Lebensentwürfe homophiler Männer durchspielt: Das Doppelleben, Masken der Lust – und Tröster Tod als Flucht von sozialen Zerreißproben für den Mann und seine halbwissenden Angehörigen. Mindestens einmal wird Siegfried-Mitja angesichts der menschlichen Trieb- und Treibhauseffekte speiübel.
Pachl treibt die Sänger deftig, wissend und verschmitzt in Leid, Lust, Sarkasmus und sogar Klischees auf flachestem Comedy-Niveau. Die Membran zwischen Kunst und Zote ist dünn. Wenn es Figuren gibt wie die Verlobten Gundel (Anna Ihring) und Anselm (Lars Tappert), weiß man sofort, dass die innig schön Richtung antihumanes Mitläufertum singen. Rafaela Fernandes gibt als Frau Gerta eine priapische Domina, die Raimund mit ihrer Reitpeitsche in die Ekstase treibt. Mit solchen horizontalen Spielen macht sie sich gute Freunde im Bürgermeister Balthasar (prachtvoll wie schon letztes Jahr als Kaiser Alexios: Uli Bützer), beim Pfarrer (typgerecht strenge Belcanto-Fülle: Robert Fendl) und beim Pfarrer (voll partienkompatibel: Chunho You). Sie ist vor allem aber die Meisterin über ihren Gatten. Andries Cloete wäre als Raimund das ideale Fressen für Calixto Bieito: Von Cloete hört und sieht man, dass Raimund in allen Swingerclubs, schwulen Saunaparks und Schulmädchenreports Duft- und Gebrauchsspuren hinterlässt.
Nichts für zarte Gemüter
Gut, dass Wokes bei den Vorstellungen draußen blieben. Der Zugriff in Bayreuth-Mitte auf den „Friedensengel“ ist ebenso frech wie anspruchsvoll. Robert Pflanz‘ cineastische Kenntnisse werden in den Videos zu explosiven Überreizungen mit Lachgas-Effekt. Pflanz macht vor nichts halt, weder vor Politikgrößen noch Schlachtszenen und feiertagstauglichem Sandalenkitsch. Auch Christian Bruns‘ Kostüme und Accessoires sind gut für die paradiesisch-infernale Oper mit Reizüberflutungsambitionen vom feinsten. Ein bisschen prickendes Ekelgefühl garniert den extraordinären, elitären, exhibitionistischen Opernabend wie das frittierte Petersiliensträußchen zum Gourmetmenü.
Reichshof Kulturbühne Bayreuth
Siegfried Wagner: Der Friedensengel
Ulrich Leykam (Leitung), Peter P. Pachl (Regie), Robert Pflanz (Bühne und Filme), Christian Bruns (Kostüme), Achim Bahr (Dramaturgie), Giorgio Valenta (Willfried), Julia Reznik (Eruna), Maarja Purga (Frau Kathrin), Rebecca Broberg (Mita), Uli Bützer (Balthasar), Chunho You (Der Doktor, Ein Totengräber), Robert Fendl (Der Pfarrer), Anna Ihring (Gundel), Lars Tappert (Anselm), Andries Cloete (Reinhold), Rafaela Fernandes (Gerta), Reuben Scott (Ruprecht), Jakob Ewert (Rudi), Di Guan (Ein Fronbote), Angelika Muchitsch (Die schlampige Trina), Marie-Luise Reinhard (Festgast), Mathis Bargel (Mitja), The Bayreuth Digital Orchestra, pianopianissimo-musiktheater