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Opern-Kritik: Saarländisches Staatstheater – Siegfried

WLH+LL Laboratories

(Saarbrücken, 23.2.2025) Die Saarbrücker Inszenierung von Wagners „Ring“ als Humanlabor erweist sich im „Siegfried“ als eine subtile Metamorphose auf Höhe der Zeit.

vonRoland H. Dippel,

Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka überführen Friedrich Nietzsches „Über-Mensch“-Definition in eine fragwürdige Utopie bzw. Dystopie. Das für alle vier „Ring“-Teile erdachte und allmählich Gebrauchsspuren ansetzende Humanlabor, in dem optimierte Menschen an einer noch mehr optimierten Spezies mit Schnittstellen zum Androiden forschen und diese mit durchaus wechselhaften Erfolgen optimieren, ist in „Siegfried“ einige Generationen weiter und lässt für „Götterdämmerung“ auf nichts Gutes schließen. Stabil und souverän bleibt dazu die fulminante Durchleuchtung von Wagners bei den ersten Bayreuther Festspielen 1876 uraufgeführtem „Ring“-Teilstück „Siegfried“ durch GMD Sébastien Rouland und das Saarländische Staatsorchester.

Tilmann Unger sprang relativ kurzfristig in der Titelpartie ein und macht nachdrücklich darauf aufmerksam, dass er einer der besten Tenöre im schweren Fach ist. Auch das Ensemble trug bei zu einer Wagner-Sternstunde mit Tiefgang, Intellekt und sich daraus ergebenden Erkenntnisdimensionen. Intendant Bodo Busse wird das von ihm angestoßene Projekt leider nicht mehr bis zum Finale begleiten, er wechselt als Opernintendant zum Beginn der Spielzeit 2025/26 nach Hannover.

Szenenbild aus „Siegfried“ am Saarländischen Staatstheater
Szenenbild aus „Siegfried“ am Saarländischen Staatstheater

Der echte Wagner im virtuellen

Die weißen Kittel, Overalls, die zunehmende Verkabelung der Wesen und der Vorhang mit den Wortornamenten „war ist wird“ erweisen sich als stringent. Wahlloses Herumwühlen in der Science-Fiction-Nische und an der Trendthemen-Theke kann man dem Team Szemerédy & Parditka schwerlich vorwerfen. Es hätte sich auch anders entwickeln können, aber der vielschichtige und soziologisch-philosophisch gründlich konzipierte Beginn geht – gerade weil noch vor der Pandemie sehr multipel und versatil gedacht – jetzt mit sinnfälliger Kraft auf. Wie in jeder anspruchsvollen Science Fiction seit Kurt Vonnegut gibt es bizarre bis galgenhumorige Momente. Zum Beispiel den an Schläuchen hängenden Fafner, der aus Frust nach den Begebenheiten in „Rheingold“ einen Freia-Klon nach dem anderen erzeugt und diesen wie ein Vampir auslutscht. Markus Jaursch singt den oft dämonisierten Part also mit gesunder Sättigung und fast leichtzüngig. Hier wie an anderen Stellen unterwerfen sich Szemerédy & Parditka willig dem Stoffzwang, ohne zu kneifen.

Der emotionale Mangel und Hunger nach Ausgleich von innerer Leere betrifft den puren Menschen wie den Cyborg. Auch der Siegfried aus dem E-Labor hat Sehnsüchte, weiß aber nicht warum und woher. Zum bewegenden Zeitstopper gerät das Waldweben, wenn Siegfried rudimentäre Affekteinheiten an das mit ihm verbundene „Gemini-Projekt“ – also die Versuchsreihe mit seinen Cyborg-„Eltern“ Siegmund und Sieglinde – zusammenstöpselt. Ebenso bewegend, wenn Siegfried in der Schmiedeszene nicht an sein Schwert, sondern an den Chip mit Zugangsberechtigung in die Eingeweide des Labors und seiner „Versuchsprodukte“ kommt.

Szenenbild aus „Siegfried“ am Saarländischen Staatstheater
Szenenbild aus „Siegfried“ am Saarländischen Staatstheater

Brünnhilde 2.0, die Prachtfrau Erda an Schläuchen und Wotan next generation

Dort wird an verschiedenen Optimierungsideen gearbeitet. Erda zum Beispiel ist nicht ganz so technisch wie die Wälsungen-Serie oder die in Kühltanks geparkten Götter-Klone der ersten Generation. Sie hängt an Schläuchen, vibriert dabei vor Emotionen und ist attraktiv wie eine Schönheitskönigin von früher (großartiger Mini-Auftritt von Melissa Zgouridi). Das Aneinander-Vorbeireden des sonst testosterongesteuerten Siegfried mit der durch intime Vorkenntnisse der Göttergeschichte geflashten Brünnhilde gerät wirklich zum Abgleich verschiedener Wissensspeicher. Pech nur, dass Aile Asszonyi als Brünnhilde 2.0 sich erst prachtvoll die Erinnerungssynapsen ersingt und nach „Leuchtende Liebe, lachender Tod“ zusammenbricht, weil der Relaunch zu Brünnhilde 3.0 startet.

Das Manipulative Wotans, der sich in der nächsten Modell-Generation „Wanderer“ optimiert, schafft eine Flut von szenisch-dramaturgischen Wahrheiten zu Wagners vielschichtig aufgeladenem Plot. Das führt zwangsläufig zu Charisma-Verlust für Simon Bailey, der einen konditionierten und an den Buchstaben klebenden Wanderer mit iPad und korrekter Wissenschaftlerattitüde gibt. Im Labor gibt es keine mythisch-heroischen Größen, sondern nur Dienst an der Wissenschaft, ausgeführt durch und an Cyborg-Produktserien und immense Datensammlungen über das Leben früher. Diese reichen von blühenden Apfelplantagen bis zum Schachbrett, auf dem Brünnhilde in der Springerfigur das Ross Grane, ihr früheres Lieblingsspielzeug, entdeckt. Unerlässlich in diesem Konzept ist das in enger Synergie mit der Musik wirkende Design aus Computeranimationen, E-Protokollen und Programmiersprachen: Leonard Koch entwickelte eine kongeniale und perfekt realisierte Videopartitur.

Szenenbild aus „Siegfried“ am Saarländischen Staatstheater
Szenenbild aus „Siegfried“ am Saarländischen Staatstheater

Hochemotionale Hightech-Evolution

Alles, was Sébastien Rouland mit dem Saarländischen Staatsorchester – dem singenden Blech, den üppigen Holzbläsern, den samtigen Streichergruppen – anstellt, beflügelt die Szene, erhöht in Synergie zur szenischen Astronautennahrung den instrumentalen Wagner-Speed. Unvergesslich geraten Sequenzen, wenn Mime Siegfrieds Furcht herauskitzeln will, der Schlagabtausch von Wotan und Alberich (Werner Van Mechelen mit Frankenstein-hafter Persönlichkeit), das Waldweben. Rouland ist immer direkt im musikalischen Gegenwartsmoment, macht Wagner zum Wunder an Schubert-hafter Melodik und fast Dvořák-haftem Fluidum. Der einhellige Erfolg ist mehr noch als dem idealen Gesangsensemble dieser intensiven Verdichtung von Musik und Szene zu verdanken. Diese Eintracht aus Diversität und hoher Musikalität bewirkt einen Höhepunkt der Spielzeit.

Szenenbild aus „Siegfried“ am Saarländischen Staatstheater
Szenenbild aus „Siegfried“ am Saarländischen Staatstheater

Intelligente Dramaturgie bis ins letzte Detail des „Siegfried“

Überraschungen auch in der Ensemblekonstellation. Endlich singt ein Mime, der unter anderen Casting-Vorzeichen bis vor kurzem ein Siegfried hätte sein können. Echtes spannendes Musiktheater entsteht zwischen Paul McNamaras Mime und Siegfried, weil weder die beiden Sänger noch Rouland über die Duoszenen hinweghuschen, welche insgesamt weitaus länger sind als die von Tristan und Isolde. Unger erweist sich – egal ob „Tristan“ in Dessau, zu „Götterdämmerung“ in Braunschweig oder hier – als intelligent-affektiver Sängerdarsteller, der in den längsten Partien des Opernrepertoires keine Gedanken an Kondition oder Technik verschwenden muss. Für den Saarbrücker „Ring“ ist dieser Mann ein Glücksfall.

Intelligente Dramaturgie bis ins letzte Detail: Das Waldvögelein (Bettina Maria Haupt) wird zur synthetischen Erinnerung Siegfrieds an seine „Mutter“ und an seinen „Vater“. Diese Inszenierung ist also alles andere als eine rationale Vergewaltigung von Wagners Plot, vielmehr eine subtile Metamorphose auf Höhe der Zeit. Das verdient höchste Anerkennung, egal wie dieses Experiment mit „Götterdämmerung“ enden wird.

Saarländisches Staatstheater
Wagner: Siegfried

Sébastien Rouland (Leitung), Alexandra Szemerédy & Magdolna Parditka (Regie, Bühne & Kostüme), Thomas Roscher (Licht), Leonard Koch (Video), Benjamin Wäntig (Dramaturgie), Tilmann Unger, Paul McNamara, Simon Bailey, Aile Asszonyi, Werner Van Mechelen, Markus Jaursch, Melissa Zgouridi, Statisterie des Saarländischen Staatstheaters, Saarländisches Staatsorchester






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