Die der legendären Sängerin und Salonière Pauline Viardot-García gewidmeten Salzburger Pfingstfestspiele 2020 mussten wegen der Pandemie entfallen. Für die Ausgabe 2021 baute deren Leiterin Cecilia Bartoli eine musikalische Porträtgalerie ihrer Heimatstadt „Roma aeterna“. Seit 1871 – genau 150 Jahre – ist die Ewige Stadt die Kapitale des geeinten Italien. Also gastierten Anna Netrebko und Jonas Kaufmann in einer konzertanten Aufführung von Puccinis „Tosca“, Philippe Jaroussky leitete Alessandro Scarlattis Oratorium „Cain“ und der 85-jährige Zubin Mehta das Orchestra del Maggio Musicale Fiorentino bei einem Respighi– und Mendelssohn-Programm. Zu einem Höhepunkt geriet die auch bei den Salzburger Sommerfestspielen 2021 ab 4. August auf dem Spielplan stehende szenische Neuproduktion von Händels erstem, in Rom entstandenem Oratorium „Il trionfo del tempo e del disinganno“ aus dem Jahr 1707.
Robert Carsens Blick auf Topmodel-Wettbewerbe, die bohrend eindringliche musikalische Gestaltung von Les Musiciens du Prince-Monaco unter Gianluca Capuano und die Höchstleistungen des Solistenquartetts brachten das Publikum zum Jubeln. Ideal ergänzten sich barocke Sakralmusik und das Innenleben einer Casting-Agentur des 21. Jahrhunderts, in der blutjunge Bewerber sich mit Haut, Haaren und der Hoffnung auf einen Spitzenplatz im echten oder digitalen Rampenlicht zu Markte tragen. Freiwillig und mit einem Totaleinsatz, dem sich ausgerechnet die Allerschönste – Bellezza – entzieht und Fragen nach dem Sinn des Lebens stellt.
Händels erstes Oratorium
Der Aufenthalt in Italien gab Händels Lehrjahren als Komponist den letzten Kick. Das Libretto seines Förderers Kardinal Benedetto Pamphilj stellte durch die Ideentiefe eine gewaltige Herausforderung dar für den 22-jährigen Komponisten, der in Hamburg seinen ersten Opernerfolg „Almira“ vorgelegt hatte, in Rom an die 60 Kantaten schrieb und wegen des päpstlichen Opernverbots für Rom als Bühnenkomponist südlich der Alpen erst mit „Rodrigo“ und „Agrippina“ in Venedig zum Zuge kommen sollte. Dieses Opus ist textlich und musikalisch weitaus dramatischer als so manche Oper aus Händels Londoner Schaffensperiode.
„Der Triumph der Zeit und der Erkenntnis“ enthält neben berührenden und höchst virtuosen Arien mehrere Ensembles wie jenes aufregende Quartett, in dem die allegorische Figuren Zeit, (geistige) Erkenntnis und Vergnügen die zaudernde Schöne – Robert Carsen nennt sie eine „Jedefrau“ – bedrängen: Die Schöne streift nach den Versuchungen durch das im Textbuch als verführerischer junger Mann beschriebene Vergnügen (Piacere) ihre Lust auf das Welttreiben ab. Durch den Blick in einen Spiegel, der ähnlich beschleunigende Wirkung hat wie der magische Trank in einer Wagner-Oper, wird sie sich ihrer Sterblichkeit bewusst. Diese muss sie am Ende nicht mehr verdrängen und macht sich auf die Suche nach einem für sie gültigen Lebensentwurf.
Lug und Trug perfekter Oberflächen
„Wenn die Täuschung meine einzige Nahrung ist, wie kann ich da mit der Wahrheit leben?“ bricht es aus Piacere, Cecilia Bartoli, die sich diese Kastratenpartie souverän aneignete, gibt einen vampirischen Kumpeltyp und gewinnt das Vertrauen der von ihr ausgepressten Jugendlichen. Bartoli meißelt und lockt mit schon zischenden Koloraturenketten, als La Bellezza die flüchtigen Suggestionen einer Karriere als „The World‘s Next Top Model“ in den Wind schlägt wie im ersten Teil die Bedenken von Zeit und Erkenntnis. Die beiden unauffälligen Nebelkrähen halten sich erst mit guten Ratschlägen zurück. Erst wenn Carsens Illusionsmaschinerie vom süßen Leben voll in Fahrt kommt, geben sich Zeit und Erkenntnis als Seelenklempner und Spaßbremsen auf dem Tummelplatz von Musik, Drogen und Selbstbespiegelung zu erkennen.
Kritischer Blick auf die Modell-Szene
In Gideon Daveys Stage Design und dem Videomaterial von rocafilm ereignet sich die Selektion des physischen Star-Materials in einer bestechenden Optik: Im Bus karrt man eine Gruppe aufgekratzter Youngster aus dem Salzkammergut ins Studio und Top-Aussichtspunkte Salzburgs herbei. Spaß und die Lust auf Omnipräsenz spiegeln das knallharte Geschäft, bei dem schnell Drogen auf die Tabletts kommen. Für Bellezza ist der vernebelte Beischlaf mit dem steilen DJ der Gipfel ihres Erfolges vor Absturz in die Sinnkrise. In Carsens einmal mehr ästhetisch faszinierendem Spiegel der Realität wird allerdings nicht plausibel, wie die grauen Therapeuten offenbar mit Zustimmung der Chefin ins Studio eingeschleust werden konnten.
Als überzeitliche Wahrheit und Teil des „Großen Welttheaters“, das die Salzburger Festspiele im 2021 nachzuholenden 100-Jahre Jubiläum mit Beziehungen zur Antike und zu den humanistischen Traditionen des Abendlands sein wollen, funktioniert die Ästhetik, bis Bellezza im weißen Trägerkleid aus dem Dunkel der Hauptbühne durch einen Torspalt in das Neonweiß der Hinterbühne aufbricht. Die musikalische Gesamtleistung bringt faszinierende Kontraste, zumal das Flache, Billige und Trashige der unterbrochenen Hetzjagd auf die Fashion Victims weggefiltert wurde.
Die Arien polarisieren zwischen betörender Poesie und eruptiv motorischen Attacken
Jugendliche Frische hat in der souveränen Vierergruppe nur Mélissa Petit, die sich zu Beginn im Tanzensemble der jungen Superschönen bewegt und in deren Koloratur-Hetzereien immer das Erstaunen darüber mitschwingt, was sich in ihrem zu Beginn unbedarften Selbst einnistet. Am Ende ist klar, dass Bellezza einen stein- und dornenreichen Weg einschlagen wird und die philosophische Erkenntnis kein leichteres Leben bedeuten kann. Les Musiciens du Prince-Monaco und Gianluca Capuano bohren sich mit hochauflösender Pixel-Rasanz in die zwischen betörender Poesie und eruptiv motorischen Attacken polarisierten Arien. Bellezzas Erkenntnisschub wird mit schon manischer physischer Energie erzwungen. Lawrence Zazzo und Charles Workman singen ihre Tugendmahnungen mit beamtenhafter Trockenheit und natürlich noch immer eindrucksvoller Beweglichkeit.
In der Verführerrolle des Vergnügens übernimmt Cecilia Bartoli den charismatischen Chamäleon-Part. Mit Zigarette und Hosenanzug ist sie die Vertraute des jungen Menschenmaterials, aber auch der alle Einwände zum Verstummen bringende Vampir. Es kann kein Zufall sein, dass die aus „Rinaldo“ bekannte Liebesklage „Lascia ch‘io pianga“ in diesem Oratorium als Dacapo-Arie erklingt. Händel malt hier unwiderstehlich, wie das Vergnügen die Schönheit in ein aus trügerischen Glücksverheißungen gewebtes Spinnennetz lockt: „Lass den Dorn, pflücke die Rose.“ Kräftige Konkurrenz bekommt Bartoli von Mélissa Petit, die am Ende mit unschuldigem Trägerkleidchen anstelle einer Büßerkutte sich mal auf einen vermutlich dornenreichen Weg im schonungslosen Neonlicht machen wird. Petits eindrucksvolle, aber nicht ganz zur schon stimmtechnisch unschlagbaren Bartoli konkurrenzfähige Leistung offenbart ihre Stärken in den Momenten, in denen sie ihren weichen lyrischen Sopran durch rhetorische Fragen und melodiöse Antworten führen kann. Tobender Applaus und faszinierte Begeisterung.
Salzburger Pfingstfestspiele (Haus für Mozart)
Händel: Il trionfo del Tempo e del Disinganno
Gianluca Capuano (Leitung), Robert Carsen (Regie), Gideon Davey (Bühne & Kostüme), RebeccaHowell (Choreografie), rocafilm (Video) Mélissa Petit (Bellezza), Cecilia Bartoli (Piacere), Charles Workman (Tempo), Lawrence Zazzo (Disinganno), Les Musiciens du Prince-Monaco, Tanzensemble