Ganz gleich, was ab Pfingsten aus der Semperoper raus-, vor allem aber auf den heimischen Bildschirmen ankommt – der individuelle Wohnzimmervorbehalt und das landesweite Digitalisierungsdilemma spielen bis auf weiteres bei jedem Opernstream mit. Die zugrunde liegende Aufführung in der Semperoper, an der gerade mal ein halbes Dutzend Kritiker am 8. Mai vom zweiten Rang aus live teilnehmen durften, war eine Sternstunde! Sie bot auch unter den herrschenden Ausnahmebedingungen genau das, was man von diesem Haus zu Recht erwarten darf: einen Richard Strauss auf Weltniveau. Nach diesen berauschenden über zwei Opernstunden mit direktem Blick auf Bühne und in den Graben weiß man wieder, warum die Sächsische Staatskapelle nicht nur mit Blick auf ihre Geschichte, sondern auch gegenwärtig als das Strauss-Orchester schlechthin gelten darf. Und auch, warum Christian Thielemann nach wie vor genau der richtige Sachwalter dieser so spätromantisch opulenten wie auch delikat transparenten Klangwelten ist.
Die Sächsische Staatskapelle Dresden entzückt mit entrückter Perfektion
Die Dresdner Musiker saßen in der angemessenen Kopfstärke, ausreichend getestet und jeder mit eigenem Pult versehen für ihre Zaubereien beieinander und waren ganz bei sich selbst und ihrem Komponistenhausgeist aus dem vorigen Jahrhundert. Sie spielten in der entrückten Perfektion, wegen der man so gern nach Dresden fährt. Dazu ein Ensemble, das man gegenwärtig höchstens anders aber kaum besser zusammenbringen könnte. Von der Gräfin und ihrem Bruder an der Spitze bis zum Haushofmeister und der Dienerschaft am anderen Ende der gesellschaftlichen Pyramide. Das Libretto für dieses Konversationsstück geht noch auf eine Anregung von Stefan Zweig zurück, verfasst haben es Clemens Krauss und der Komponist höchstselbst.
Prima la musica – prima la parola?
Camilla Nylund braucht nur etwas Anlauf, um in die geradezu entrückte Hochform zu kommen, mit der sie dann im wahrsten Wortsinn im Mittelpunkt des Finales steht. Ganz so als wäre ihre Figur eine legitime Nachfahrin der melancholisch philosophierenden Feldmarschallin aus dem „Rosenkavalier“. Mitten im Krieg, 1942, war „Capriccio“ das Schlusswort des alten Richard Strauss in Sachen Oper. Dass er darin von dem Dichter Olivier (nobel geschmeidig: Nikolay Borchev) und dem Musiker Flamand (Daniel Behle mit hinreisendem lyrisch kraftvollem Tenorschmelz) mit Inbrunst die alte Frage erörtern lässt, ob die Musik oder das Wort für die Oper wichtiger sei, kann man in seiner eigensinnigen Abwendung von den Zeitläuften durchaus als Statement auffassen. Der theoretische Diskurs ist mit dem Ringen der beiden Männer um die Gunst der kunstliebenden Gräfin verwoben und trägt sich in der Vorlage 1775 auf einem Schloss in der Nähe von Paris zu. Am Ende bleiben sowohl das Entweder-Oder in den Herzensangelegenheiten der Gräfin, als auch jenes für die Theorie zur Oper schwebend offen.
Eine Luxusbesetzung auf der ganzen Linie
Der öffentliche Teil freilich bietet eine Steilvorlage für das leidenschaftliche Verteidigungsplädoyer des Theaterdirektors La Roche. Für solche Exkurse ist Georg Zeppenfeld genau der Richtige. Offenbar war der Gurnemanz im Wiener „Parsifal“ vor kurzem genau die passende Aufwärmübung für dieses eloquente Bekenntnis zum lebendigen Gesamtkunstwerk; eins, das kein bisschen angestaubt wirkt. Die praktische Seite des Theaters hat noch eine zweite Anwältin – bei dieser Luxusbesetzung darf sogar der persönliche Geschmack mitspielen: Die Semperoper hat mit Christa Mayer eine der besten Mezzostimmen überhaupt im Ensemble, sie macht aus jedem Ton der Schauspielerin Clairon ein Extravergnügen. Sie liefert sozusagen das Sahnehäubchen, obwohl sich auch Christoph Pohl als Graf oder der quicklebendige Wolfgang Ablinger-Sperrhacke als Monsieur Taube noch Tuuli Takala und Beomjin Kim als italienisches Sängerpaar nicht verstecken müssen. Wie unangestrengt bei der Sache und uneitel aufs Ganze bedacht sie allesamt sind, bewährt sich in den großen Ensembleszenen, bei denen niemand unterzugehen droht. Hier scheint tatsächlich jeder auf den anderen zu hören.
Musikalische Referenzqualität schlägt szenische Schlüssigkeit
Wenn also die Frage nach dem Primat von Musik oder Wort schwebend offen bleibt, ist die Frage nach dem Vorrang von musikalischer Seite und Inszenierung diesmal ziemlich eindeutig zu beantworten. Und zwar über das Maß hinaus, das an szenischer Schlüssigkeit bei musikalischer Referenzqualität möglich wäre. Während Musik und Gesang geradezu explodieren, ist bei der intellektuellen Substanz der Inszenierung von Jens-Daniel Herzog das Gegenteil der Fall. Wobei der Rahmen, den Mathis Neidhardt mit seinem beweglichen Bühnenrund und Sibylle Gädeke vor allem mit ihren Kostümen für die Gräfin einige Akzente setzen. Wenn das Bühnenrund geschlossen ist und die Musik sozusagen kammermusikalisch plaudernd ihre Gedanken sammelt, sieht man, wie sich drei Rentner von heute zum Plausch auf einer Bank treffen, um einen offensichtlich Jahrzehnte währenden Streit zu pflegen. Hinter einem einsamen Fenster kann man die Fernsehübertragung einer Oper vermuten. Wenn sich diese Wand öffnet, sind wir in einer anderen Epoche: üppig holzgetäfelter Salonwohlstand innen; die drei Buchstaben LSR und ein Pfeil in Richtung des Luftschutzraumes außen.
Damit hat es sich dann aber auch schon mit einer Thematisierung der Entstehungszeit, die gerade bei dieser Oper eher geboten scheint als bei andern. Dass die Schauspieler wie Flüchtlinge daherkommen und die Gräfin am Ende in einem fiktiven Spiegel sich selbst als alter Frau begegnet, lenkt jedenfalls kaum vom puren Genuss der Musik ab.
Ab 22. Mai 2021 (Pfingstsamstag) bis zum Ende der Spielzeit ist „Capriccio“ als Streamingangebot der Semperoper kostenlos abrufbar.
Semperoper Dresden
R. Strauss: Capriccio
Christian Thielemann (Leitung), Jens-Daniel Herzog (Regie), Mathis Neidhardt (Bühne), Sibylle Gädeke (Kostüm), Fabio Antoci (Licht), Camilla Nylund, Christa Mayer, Tuuli Takala, Wolfgang Ablinger-Sperrhacke, Daniel Behle, Nikolay Borchev, Beomjin Kim, Christoph Pohl, Georg Zeppenfeld, Herren des Sächsischen Staatsopernchors Dresden, Sächsische Staatskapelle Dresden