Manche Stücke wirken bei ausgedünnter Besetzung des Zuschauerraums einfach besser als bei vollem Saal mit positiver Zuschauerenergie. Dazugehört sicher Eugène Ionescos zum Klassiker avancierter Dramenerstling „Die kahle Sängerin“ von 1950. Luciano Chaillys Kammeroper aus dem Jahr 1986 muss sich dagegen noch bewähren. Ionesco, inzwischen längst eine Ikone des absurden Theaters, richtete das Libretto ein. Erst 35 Jahre nach der Uraufführung in Wien folgte die deutsche Erstaufführung im Semper Zwei der Sächsischen Staatsoper. Man tat gut daran, in der aufgrund der allgemeinen sächsischen Theaterschließung bis Mitte Januar um nur wenige Tage verschobenen Premiere die deutsche Übersetzung des Offenbach-Experten Josef Heinzelmann singen zu lassen. In „Die kahle Sängerin“ muss man die Dialoge erst verstehen, um zu bemerken, dass sie keine narrative Kohärenz haben.

In „Der goldene Drache“, Barbora Horákovás erster Regie für Semper Zwei, war alles mit allem verbunden – ein kranker Zahn im fernen Osten hatte Einfluss auf ein asiatisches Fast-Food-Restaurant auf der anderen Seite des Globus. In „Die kahle Sängerin“ dagegen sind bürgerliche Rituale und der Sinn des Lebens aus dem Geleis aller Verständnishorizonte. Ionesco schildert mit Floskeln die totale Diskonnektivität – Inhalte und soziale Funktionen brechen auseinander. Deshalb gibt es unter Luciano Chaillys stellenweise ermüdenden Dauer-Rezitativen kaum noch Orchester-Tutti. Die Verbindung einzelner Instrumente – unter Anführung von Gitarre, Mandoline, Mandola, Harfe und Celesta – und Dialoge zwischen den Gruppen sind das formale Gerüst der freitonalen Partitur. Dass Chailly in der Musik ebenso konturlos bleibt wie der Text, hätte Anlass werden können zu vollkommener szenischer Freiheit. Aber Horáková setzte auf eine bourgeoise Opulenz, die auch für Offenbach, Cocteau und Oscar Wilde gut genug wäre.
Kostüm- und Requisiten-Fest
Das Projektorchester des Semper Zwei sitzt hinter der Spielfläche und ist mit Dirigent Thomas Leo Cadenbach zu sehen, sobald die Relieftapete eingerissen wurde. In der ersten Zuschauerreihe hat Alexey Fomenkov mit der Soufflage mindestens so viel zu tun wie mit Vorkehrungen für die sängerische Sicherheit. Sergio Verdes Schwarzweiß-Videos zeigen faltige alte Gesichter und sich entrollende Ziffernreihen à la Dalí. Horáková gibt den Figuren einige prägnante Verhaltensweisen für die 80 Minuten der Oper mit – vor allem individuelle Vielfalten des Staunens, dezenter Brüskierung und ermunternder Aufmerksamkeit für die Ehepaare Smith und Martin.

Das Stubenmädchen und der Feuerwehrhauptmann in Weiß mit gefärbten Haaren tun dagegen kaum etwas Unerwartetes. Natürlich erscheint Mariya Taniguchi als kahle Sängerin nicht kahlen Hauptes, sondern in voller offener Haarpracht und Abendkleid. Sie ist die einzige Unverfremdete am vorgeblich englischen Schauplatz mit vollendetem französischem Chic. Martin-Jan Nijhof muss es beim proletarischen Grobian belassen. Manchmal zeigt Horáková Sehnsucht nach den klaren Spielregeln des Boulevardtheaters.
Sprechende Eleganz
Annett Hunger lässt das sich nicht erkennende Paar Martin auf zwei Couchhälften Platz nehmen, die sich mit Rollpodesten aufeinander zu bewegen. Ehepaar Smith zelebriert standesgemäßen Wohnkomfort, der das Paar mit Fauteuils und übergroßen Accessoires erdrückt. Benjamin Burgunder tobt sich bei den Kostümen aus, steckt die Dame des Hauses in einen fleischfarbenen Satinmantel und die Herren in Stoffe mit Blumenapplikationen. Diese harmonieren exquisit mit den Sofapolstern. Sinnverlust erzählt sich über exklusive Materialien und ein Ensemble mit Sketch- und Modell-Ambitionen. Am besten kann man lachen, wenn Chaillys Musik am sparsamsten plätschert. Nämlich dann, wenn Mr. Smith seine Frau mindestens dreimal zur Tür schickt und trotzdem niemand aus dem Flurschacht kommt.

Horáková trainierte mit den Sängern eine vielseitig modellierbare Mimik – fassadenhaft und nichtssagend. Diese Choreografie der Ratlosigkeit funktioniert. Das Ensemble schafft es zu einer sehr spezifischen Kohärenz von Spaß, Bewegungsfreude und Eleganz. Dieser Abend würde sogar ohne Musik funktionieren. Der von Luciano Chailly in 20 Variationen aufgeteilte Fluss von Rezitativen staubt sachte wie Feinzucker auf Biskuit. Klang-Gruppen pudern auf Inspirationslücken, manchmal poltern sie. Die nur mäßig eindrucksvolle Partitur zeigt vor Ionesco einen Riesenrespekt.
Tückische Herausforderung für die Solisten
Deshalb bedeutet das Zusammenkommen von Ionesco und Chailly für die Solisten eine tückische Herausforderung. Jennifer Riedel bleibt im von Chailly auskomponierten Zofen-Klischee kernig, wie man das im Musiktheater seit Pergolesis „Magd als Herrin“ gut kennt. Ihr und allen anderen Figuren entzieht die Musik paradoxerweise jene Leichtigkeit, die bei den Proben offenbar intendiert war. Zu dieser finden am ehesten die beiden Ehemänner. Peter Tantsits stürzt sich berserkerhaft in jede spielerische Situation. Er freut sich am Bespringen und Betasten von Bühne und Requisiten, macht sich mit dieser Komödiantik als einziger frei von den Bürden des Textes und der Musik. Die beiden Ehefrauen – Dilara Bastar und Anna Kudriashova-Stepanets – bemühen sich, perfekt in Haltung und Gesang um eine intelligente Diskrepanz von Text und Haltung. Weitaus entspannter wirkt Doğukan Kuran als Mr. Martin, der bei Offenbach als naiver Liebhaber mindestens ebenso ideal wäre.

Vor allem beinhaltet Chaillys Ionesco-Oper eine kaum zu meisternde ästhetische Herausforderung. In den 1950ern war „Die kahle Sängerin“ ein Gegenwartsstück und spielte mit der Entmaterialisierung von Konventionen, die zum Zeitpunkt der Uraufführung noch als Norm galten. Die Fragen nach der Gültigkeit von sozialen Konventionen und deren Bestandssicherheit bildet für heutige Individuen aber nicht einen Ausnahme-, sondern den Normalfall. Insofern enthebelt Chaillys veroperte „kahle Sängerin“ sich selbst, weil Ionescos Stück eigentlich gar keine Musik benötigt. Denn jede Form komponierter Musik presst dessen Text in eine zeitliche Organisation, welche dieser eigentlich leugnet. Dabei ist die musikalische Seite in Dresden bestens gelungen. Für die Regie bleibt es aber unlösbar, Desorientierung angemessen zu bebildern. Von den gewaltigen Fortschritten unserer Zivilisation betreffend Diskrepanzen und Divergenzen hatte Ionesco weitaus mehr Ahnung als Chailly. Deshalb zeigte die deutsche Erstaufführung von Chaillys „Die kahle Sängerin“ vor allem, dass Ionesco durch kompositorische Belanglosigkeit nicht totzukriegen ist. Ein hochachtbarer Pyrrhus-Sieg der Szene und des ganzen Ensembles.
Semperoper Dresden / Semper Zwei
Luciano Chailly: Die kahle Sängerin
Thomas Leo Cadenbach (Leitung), Barbora Horáková (Regie), Annett Hunger (Bühne), Benjamin Burgunder (Kostüme), Sergio Verde (Video), Marco Dietzel (Licht), Juliane Schunke (Dramaturgie). Peter Tantsits (Mr. Smith), Dilara Bastar (Mrs. Smith), Doğukan Kuran (Mr. Martin), Anna Kudriashova-Stepanets (Mrs. Martin), Jennifer Riedel (Mary, das Dienstmädchen), Martin-Jan Nijhof (Der Feuerwehrhauptmann), Mariya Taniguchi (Die kahle Sängerin), Projektorchester