Wann hat es das schon mal bei modernen Stücken gegeben: zwölf Minuten Premierenbeifall, das Publikum von den Sitzen gerissen? Kann man beklommen und begeistert zugleich sein? Kann man, Kaija Saariaho schafft’s. „Innocence“, die 2021 uraufgeführte fünfte und letzte Oper der vor zwei Jahren verstorbenen finnischen Komponistin, entwickelt auf der Bühne der Semperoper einen solch erschütternden Sog, dass zum erst bedrückt-zögerlich, dann um so heftiger tosenden Schlussapplaus die glücklich-erleichterten Gesichter der Protagonisten fast deplatziert scheinen, so als dürften sie nicht aus ihren Rollen heraustreten, weil ihre künstlerischen Darbietungen über das Ende des Stücks hinaus wirken.

Wer werfe den ersten Stein?
Und im besten Fall sollte Theater genau das können: statt bloß abzulenken und zu berieseln – relevant sein! „Unschuld“ heißt das Stück auf Deutsch, und mit dem ungebührlich wenig werbewirksamen Titel – auch die Premiere ist leider nicht voll – wird in ein Thema eingeführt, dass allzu oft bei Amokläufen unter den Tisch fällt: Wer – außer der Attentäter selbst – ist wirklich ohne Schuld? Wer werfe den ersten Stein?
Wir sehen eine skandinavisch anmutende Winterszenerie, in der zunächst zwei Handlungsstränge collagiert werden: Sechs stockend bewegte, frierende junge Erwachsene berichten über die Nachwirkungen eines zehn Jahre zurückliegenden Attentats ihres Mitschülers, unter ihnen eines der damals zehn Opfer, Markéta, sozusagen als Mahnerin aus dem Totenreich. Dagegen ist nahebei alles zur Hochzeit angerichtet: Bräutigam Tuomas hat seine Stella als Waise aus Rumänien mitgebracht. Doch die Tafel hat außer seinen Eltern und dem Priester keine weiteren Gäste, denn sämtliche Verwandten und ehemaligen Freunde schneiden die Familie, deren anderer Sohn der minderjährig eingesperrte und nun wieder freigelassene Amokläufer war. Trotz neuer Identität ist der Verstoßene nicht eingeladen.

Krimi-Dramaturgie mit zwei Erzählsträngen
Nach und nach verbinden sich nun beide Stränge, weil die kurzfristig eingesprungene Kellnerin Tereza und Mutter Markétas auf der Feier erkennen muss, wen sie da bedient. Sie konfrontiert die das Glück suchende Hochzeitsgesellschaft mit ihrer eigenen unbewältigten Trauer und löst so die vielfältigen vergrabenen Konflikte aus ihren Seelengruften. Aus dieser immer wieder mit Rückblenden arbeitenden Dramaturgie entwickelt sich ein regelrechter Krimi, um dessen Spannung es fast schade ist, wenn man vorher die Handlung im Programmheft gelesen hat. Wirkliche Gewalt erlebt man nur am Ende; was hier beeindruckt, ist vielmehr die psychologische Analyse.
Die nordische Düsternis, die der finnische Filmregisseur Aki Kaurismäki nicht besser hätte erfinden können, legt sich wie Blei auf die Szenerie. Waren zu Beginn die Verhältnisse von Schuld und Unschuld noch ziemlich eindeutig geklärt, ist am Ende kaum noch festzulegen, wer etwas hätte ahnen oder verhindern können, wer also Mitschuld trägt an diesem Verbrechen. Kann Sühne wirklich von Schuld entledigen? Letztlich wird nur klar: Vorzuwerfen haben sich alle etwas. Aber was folgt daraus?

Nichts ist zuviel
Wie bei anderen Krimis auch wäre es unfair zu verraten, welche Zusammenhänge sich nach und nach ergeben; wichtig ist nur eines: Regisseur Lorenzo Fioroni konzentriert sich bei allem auch etwas verschwurbelten Mythenspiel – so erscheint Markéta als Schwanenhüterin des finnischen Totenreichs Tuonela – ganz darauf, wirklich jede der nicht zufällig 13 handelnden Personen, die um die als Abendmahlstisch aufgebaute Hochzeitstafel herum irrlichtern, genau zu führen. Paul Zollers tribunalartige Bühne unterstützt seine Charakterisierungen mit kargen Mitteln, lässt es regnen und schneien, Stroboskope wie Schüsse aufblitzen – ein Hinweis auf die zweifelhafte Rolle der Medien in Tragödien wie dieser. Nichts davon ist ein Zuviel.
Allein das macht schon den Ausflug nach Dresden wert. Denn dass die Oper szenisch derart gut funktioniert, liegt weniger am etwas prosaisch wirkenden vielsprachigen Libretto von Sofi Oksanen als vielmehr an der dramaturgischen Konzeption von Kaija Saariaho selbst, die mal singen, mal sprechen lässt, im Fall von Markéta sogar finnische Joik-Gesänge einbindet. Dem riesigen und klangfarbenreichen Orchester gibt sie motivische Leitstruktur und entwickelt aus lyrischen und brutalen Gegensätzen ein regelrechtes musikalisches Psychogramm. Es wäre allein schon in der Lage, die Geschichte in all ihren Ver- und Entwicklungen zu erzählen.

Kein Urteil, nur Analyse
Schön im künstlerischen Sinn wirkt das nicht, aber was könnte man an Ursprüngen und Auswirkungen eines Amoklaufs auch ästhetisieren? Und was dagegen könnte menschlicher sein, als die Menschen in all ihren inneren Konflikten zu porträtieren? Saariahos großes Kunststück ist es klarzumachen, dass ihre Figuren nicht auf Eigenschaften oder gar Charaktere festzulegen sind. Jede ihrer Seelen ist komplex, menschlich verständlich und moralisch unverständlich zugleich. Das Stück verhandelt ja nicht weniger als diesen alten Widerspruch, ob nämlich Menschen nicht generell am Anspruch scheitern müssen, moralisch zu handeln. Tragödien und Konflikte verlaufen eben nicht linear kausal. Auch die Frage, ob man schuldig glücklich sein darf, ist deswegen hochinteressant, weil sie hier – wie viele andere Fragen auch – nur aufgeworfen wird. Hier gibt es kein Urteil, nur Analyse. Dadurch wirkt das Stück zutiefst humanistisch und fraglos erschütternd zugleich.
Unbedingt festgehalten zu werden verdient dabei, dass die musikalische und vor allem auch darstellerische Kompetenz überzeugend dem Werk dient. Durch die Bank wird hervorragend gesungen und gespielt, wobei die eindrücklichste Darbietung sicher der finnischen Folksängerin Venla Ilona Blom zu attestieren ist, die dem Opfer Markéta auf Opernbühnen sonst ungewohnte Klänge verleiht. Aber auch die klassische Riege begeistert vollumfänglich, allen voran der mühelos schlank intonierende Tenor Mario Lerchenberger als Bräutigam Tuomas und Fredrika Brillembourg als Lehrerin. Die stimmliche Verwandtschaft von Täter- (Anu Komsi) und Opfermutter (Paula Murrihy), deren Leiden gar nicht so weit voneinander entfernt liegen, wird auch durch die Kostüme Annette Brauns verstärkt.

Eine große Erweckung, Entdeckung und Selbstbefragung
Alles in allem also ein Gesamtkunstwerk, dem auch der zuerst unsichtbare und zum Ende hin bedrohlich selbstjustiziabel wirkende Chor verpflichtet ist. Und auch die Staatskapelle, nicht gerade abonniert auf derlei Partituren, stellt sich lustvoll und erwartbar professionell den spieltechnischen Herausforderungen, bietet tolle Soli an Fagott und Schlagzeug auf und folgt dem eindeutigen Schlag Maxime Pascals am Pult mit rhythmischer Akkuratesse und klanglicher Vielfalt.
Was soll man also sagen? Kulturkonsumtiver Genuss nach dem Geschmack eines Abendkleider ausführenden und Küsschen verteilenden Publikums ist das nicht. Aber eine große Erweckung, Entdeckung, Selbstbefragung. Der Besuch dieses Stück sollte nicht nur Schulen angetragen werden, sondern auch der großen Menge derer, die ohne viel Federlesen einfache Lösungen für komplexe Probleme suchen.
Semperoper Dresden
Saariaho: Innocence
Maxime Pascal (Leitung), Lorenzo Fioroni (Inszenierung), Paul Zoller (Bühne), Annette Braun (Kostüme), Fabio Antoci (Licht), Jonathan Becker (Chor), Romualdas Urba (Sounddesign), Dorothee Harpain (Dramaturgie), Paula Murrihy, Rosalia Cid, Anu Komsi, Mario Lerchenberger, Markus Butter, Timo Riihonen, Fredrika Brillembourg, Venla Ilona Blom, Jessica Elevant, Nusch Batut, Simon Jensen, Carlo Nevio Wilfart, Olga Heikkilä, Julius Günzel, Sächsischer Staatsopernchor, Sächsische Staatskapelle Dresden
Termintipp
Mi., 19. März 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Saariaho: Innocence
Paula Murrihy (The Waitress), Rosalia Cid (The Bride), Anu Komsi (The Mother-In-Law), Mario Lerchenberger (The Bridegroom), Markus Butter (The Father-In-Law), Jukka Rasilainen (The Priest), Maxime Pascal (Leitung), Lorenzo Fioroni (Regie)
Termintipp
So., 23. März 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Saariaho: Innocence
Paula Murrihy (The Waitress), Rosalia Cid (The Bride), Anu Komsi (The Mother-In-Law), Mario Lerchenberger (The Bridegroom), Markus Butter (The Father-In-Law), Jukka Rasilainen (The Priest), Maxime Pascal (Leitung), Lorenzo Fioroni (Regie)
Termintipp
Mi., 26. März 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Saariaho: Innocence
Paula Murrihy (The Waitress), Rosalia Cid (The Bride), Anu Komsi (The Mother-In-Law), Mario Lerchenberger (The Bridegroom), Markus Butter (The Father-In-Law), Jukka Rasilainen (The Priest), Maxime Pascal (Leitung), Lorenzo Fioroni (Regie)
Termintipp
Mo., 31. März 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Saariaho: Innocence
Paula Murrihy (The Waitress), Rosalia Cid (The Bride), Anu Komsi (The Mother-In-Law), Mario Lerchenberger (The Bridegroom), Markus Butter (The Father-In-Law), Jukka Rasilainen (The Priest), Maxime Pascal (Leitung), Lorenzo Fioroni (Regie)
Termintipp
Fr., 04. April 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Saariaho: Innocence
Paula Murrihy (The Waitress), Rosalia Cid (The Bride), Anu Komsi (The Mother-In-Law), Mario Lerchenberger (The Bridegroom), Markus Butter (The Father-In-Law), Jukka Rasilainen (The Priest), Maxime Pascal (Leitung), Lorenzo Fioroni (Regie)