Das leere, bewegungslose, zeitlose Nichts … Was für eine Vorstellung! Doch bis zu jener Stelle in György Ligetis Oper „Le Grand Macabre“, an der über dessen Nicht-Beschaffenheit räsoniert wurde, hielten mehrere Premierengäste in der Semperoper gar nicht durch. Kaum zu glauben: Dort kam das 1978 an der Königlichen Oper Stockholm uraufgeführte Werk zum allerersten Mal. Alle anderen wichtigen Opernhäuser Mitteleuropas hatten schon. Die Oper Leipzig bereits in den Wendejahren mit der Regie von Joachim Herz, die Berliner Philharmoniker unter Sir Simon Rattle auch und sogar die Elbphilharmonie in ihrer blutjungen Geschichte. Am Ende der zweistündigen Premiere hagelte es für die Koproduktion der Sächsischen Staatsoper mit dem Teatro Real Madrid rhythmischen Applaus und Jubelrufe. Man hatte sich eifrig bemüht, aus Ligetis apokalyptischer und dabei erzkomödiantischer Vision des doch nicht eintretenden Weltuntergangs eine glamouröse Event-Sause zu gestalten. Diesmal hatte der Spanier Calixto Bieito nach in letzter Zeit etwas routiniert geratenen Provokationen wieder mehr schmierige Substanzen, menschenfleischartige Knetmasse und bizarren Nicht-Sex im Angebot. Der Abscheu einiger die Vorstellung vorzeitig verlassenden Besucher hat möglicherweise mit Ligetis musikalischer Verspieltheit zu tun, die den symbolisch-drastischen Witz und die fäkalischen Späße aus Michel de Ghelderodes Farce nicht abstrafen, sondern fröhlich garnieren.
Hereinspaziert!
Der infernalische Spaß beginnt schon am Haupteingang der Semperoper: „Heute Weltuntergang“ posaunt ein Transparent. Besucher setzen ihre Schritte vorsichtig zwischen die wie tot auf den Stufen liegenden Menschen. Im Saal pöbeln, frotzeln, blöken inszenierte Störtrupps schon vor Beginn von den Rängen, bis Omer Meir Wellber den Finger auf die Lippen legt und die Autohupen-Toccata in der lichten Akustik ihren desto schöneren Anfang nimmt. An mehreren Stellen züngeln Empörungsrufe auf. Diese sind keine integraler Teil der Partitur und möglicherweise als paradoxe Aufforderung zu Bravo oder Buh gedacht. Der Höhepunkt der Zuschauerflucht wird erreicht, wenn sich der adrette Prinz Go-Go (Christopher Ainslie) Hemd und Brust mit ganz viel Nussnougatcreme beschmiert und sein Gepopo-Chef (Hila Baggio) den blutbeschmierten Arm mit geballter Faust gen Himmel reckt. Der Abgang der echt Empörten vollzieht sich im Gegensatz zur „Randaleria“ der Komparsen stumm und ohne Türenschlagen. Ein ganz normaler Tag im Bundestag ist definitiv aufregender als der von Bieto aufgefahrene anti-apokalyptische Krisenstab.
Patient Erde
Seinen Skandal bekommt Dresden also nicht trotz aufrichtigen Bemühens, obwohl aufregend passioniert gesungen wird. Dafür sind Rebecca Ringsts sternenbesetzter Rundhimmel und der Laufsteg Richtung himmlische Höhen zu perfekt, Ingo Krüglers Kostüme zu neutral und Sarah Derendingers auf einen hängenden weißen Globus projizierte Videos zu absehbar. Die größte Überraschungspointe ist, dass man bei den in den Projektionen ausgiebig geknautschten Muskel- und Zellgewebe die gezeigten Körperöffnungen verwechseln könnte. Übrig bleibt, wenn der von Nekrotzar angekündigte Komet doch nicht kommt, ein kreidebleicher Patient Erde, welcher irgendwie falber und runzeliger vom Schnürboden hängt als zu Beginn. Welttheater ist Calixto Bieitos Regie vor allem dadurch, dass Materialien und Musiker auf der Bühne und den Rängen von einer Position zur anderen in permanenter Bewegung sind. Die Solisten geben nicht mehr preis als von den Figuren im Textbuch steht. Trotz einer Übermenge der im Einsatz befindlichen organischen Substanzen wirkt die gesamte Produktion gläsern und steril, obwohl Gerhard Siegel als Piet vom Fass und Markus Marquardt als Nekrotzar herrlich abgestürzte Typen kurz vor dem Aufprall in der Gosse sind.
Domina im Trenchcoat
Am meisten bedauerlich ist das allerdings für Iris Vermillion, die Bieito um ihren großen Auftritt als fesche Domina Mescalina bringt und die ihr rabiates Lustwerk dafür im schlichten Trenchcoat verrichtet. Noch blässlicher gerät Frode Olsens schrulliger und devoter Katastrophenpropagandist Astradamors. Am meisten Kreativität beweist Bieito immerhin in der Darstellung des dauergeilen Paars, deren originale Namen Spermando (Annelie Sophie Müller) und Clitoria (Katerina von Bennigsen) man in Dresden verschweigt: Die zwei kleinen Mädchen saugen hingebungsvoll am Joint. Das mit belcantischer Eindeutigkeit komponierte Verschmelzen der Geschlechter geschieht durch umgeschnallte Sandspieleimer, mit denen sich die beiden ins Nirwana poppen.
Meilenstein des Musiktheaters: Le Grand Macabre
Der Chor mit gefühlten 700 Minisoli sitzt im zweiten Rang. Es sind mit kanonartigem Skandieren, Zischen und Mitteln sekundärer Tonproduktion ungewohnte Herausforderungen für den verantwortlichen Jan Hoffmann. Ein Papierkugel-Regen mit der Ankündigung von Astradamors‘ apokalyptischen Ausführungen ergießt sich ins Parkett. Omer Meir Wellber und die Sächsische Staatskapelle werden im visuellen Furor immer klarer, glanzvoller und brillanter. Einmal mehr verdeutlicht sich also, dass Ligetis Oper zu den Meilensteinen des Musiktheaters aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehört. Ob der Komponist mit dem Schrecken einen ungebührlichen Spaß trieb oder Ligetis Oper eine pseudo-esoterische, dabei erfrischend freche Juxparade ist, bleibt auch diesmal offen.
Semperoper Dresden
Ligeti: Le Grand Macabre
Omer Meir Wellber (Leitung), Calixto Bieito (Inszenierung), Rebecca Ringst (Bühne), Ingo Krügler (Kostüme), Michael Bauer (Licht), Sarah Derendinger (Video), Jan Hoffmann (Chor), Johann Casimir Eule (Dramaturgie), Hila Baggio (Venus & Gepopo), Katerina von Bennigsen (Amanda), Annelie Sophie Müller (Amando), Christopher Ainslie (Prinz Go-Go), Frode Olsen (Astradamors), Iris Vermillion (Mescalina), Gerhard Siegel (Piet vom Faß), Markus Marquardt (Nekrotzar), Reinhold Schreyer-Morlock (Ruffiak), Wooram Lim (Schobiak), Markus Brühl (Schabernack), Aaron Pegram (Weißer Minister), Matthias Henneberg (Schwarzer Minister), Sächsischer Staatsopernchor Dresden, Sächsische Staatskapelle Dresden