Für gewöhnlich ist es dem klassischen Konzerthaus vorbehalten, dass man dort nicht nur der Musik lauscht, sondern sich auch seinem Gegenüber widmet – ob aus Interesse oder aus purer Zerstreuung. Man liest in dessen Miene Begeisterung, Gleichgültigkeit oder gar leise Qual.
Nur in der Oper hingegen, insbesondere der (früh)barocken, sind alle Blicke nach vorne gerichtet. Eigentlich. Denn Regisseurin Mirella Weingarten bricht mit diesem Dogma. Sie überträgt die intime Atmosphäre des Konzertsaals auf die Opernbühne – und zwar in einer Umgebung, die so kurios wie stimmig erscheint: das Dachgeschoss der Kaserne in der Zitadelle Spandau. Gemeinsam mit der Capella de la Torre bringt sie dort Francesca Caccinis Opernfragment „La liberazione di Ruggiero dall’isola d’Alcina“ zur Aufführung – in einem Raum, der zugleich behaglich und mit seiner fürstlichen Renaissance-Festungsarchitektur herrschaftlich distanziert von der Außenwelt wirkt. Ein Bühnenspiel, flankiert von Publikumsrängen: ein Arrangement, das passender kaum sein könnte.
Traditionsreicher Stoff
Der Werktitel verrät bereits die Essenz: „La Liberazione“ gilt nicht nur als das älteste überlieferte Bühnenwerk einer Komponistin – Francesca ist die Tochter des Renaissancemeisters und Opernpioniers Giulio Caccini –, sondern auch als eine der frühesten musikalischen Auseinandersetzungen mit dem Alcina/Ruggiero-Stoff. Erst Händel wird ihn über hundert Jahre später mit seiner „Alcina“ zu glanzvoller Vollendung führen. Doch der Plot bleibt vertraut: Alcina hat sich ihr eigenes Inselreich der Illusionen geschaffen, in das sich Ritter scharenweise verirren, um ihr rettungslos zu verfallen. Auch Ruggiero gerät in ihren Bann – bis ihm mit Hilfe der Zauberin Melissa die Flucht gelingt und er sich wieder seiner tugendhaften Mission widmen kann.

Da nicht die gesamte Partitur Caccinis überliefert ist – unter anderem fehlt ein spektakuläres Schlussballett zu Pferde –, konzentriert sich Weingarten auf den wesentlichen Konflikt zwischen Alcina und Ruggiero. Auf die Rolle der Melissa wird verzichtet. Für das minimalistische Szenario verwendet die Regisseurin eine lange Bank als Requisit, auf der Alcina, Ruggiero, eine Tänzerin (Laura Siegmund), aber teilweise auch die gesamte Capella de la Torre samt ihrer Leiterin Katharina Bäuml sich platzieren müssen. Die enge räumliche Verzahnung führt zu einer eigentümlichen Sinnesverschmelzung – es entsteht ein orgiastisches Spiel zwischen Darstellern und Musikern.
Miasmatisch und orgiastisch verschmelzend
Caccinis Werk ist ein dampfender, rätselhaft schwebender Dialog. Alcina und Ruggiero streiten, lamentieren, lieben – eine Kammeroper im engsten Wortsinn. Die Bank dient dabei als rettende Insel und Käfig zugleich. Dazwischen bewegt sich die Tänzerin in abstrakten Gesten, greift die unwirkliche Atmosphäre auf, in die sich auch die Capella einfügt: Instrumentalisten wandeln zwischen den Akteuren umher, setzen sich zu ihnen, verschmelzen mit ihnen zum Tableau vivant.
Improvisation und Ausdauer
So unwirklich die Szene, so klar strukturiert ist die Musik: Auf eine eröffnende Sinfonia folgt ein langes, madrigaleskes Rezitativ. Mal dominieren kunstvoll verzierte Arien, mal herrscht schlicht generalbassbegleiteter Secco-Gesang. Als dramaturgischer Katalysator fungiert Katharina Bäuml, die als Erzählerin durch die Handlung führt. Was hier beeindruckt, ist nicht nur die Darbietung an sich, sondern die Fähigkeit der Capella zu musizieren, teilweise auswendig zu spielen und dabei der improvisierten Choreografie zu folgen.
Das sparsam besetzte, rund achtzigminütige Kammerspiel verlangt allen Beteiligten Durchhaltevermögen ab. Eric Price als Ruggiero kann sich insbesondere in den Rezitativen und Solo-Passagen profilieren, während Margaret Hunter als Alcina mit kraftvoller klanglicher Brillanz die ariosen Duette dominiert. Ein gelungener Abend, der mit wenig Mitteln eine große Bandbreite frühbarocker Sangeskunst darbietet – unterhaltsam, intelligent und mit einem Hauch sinnlicher Exzentrik.
SPAM – Spandau macht Alte Musik
F. Caccini: La liberazione di Ruggiero dall’isola d’Alcina
Katharina Bäuml (Leitung), Mirella Weingarten (Regie), Margaret Hunter, Eric Price, Laura Siegmund, Capella de la Torre