Inmitten des barocken Klosterhofs ist die berühmte Westrosette von Notre-Dame de Paris bruchgelandet. Schon von weitem ist das spektakuläre Bühnenelement sichtbar. Flankiert wird es von einer ausladenden Gerüstkonstruktion, angelehnt an die Bilder nach dem verheerenden Brand von 2019. Bei den St. Galler Festspielen feierte die Opern-Rarität „Notre Dame“ unter freiem, etwas wolkenverhangenem Himmel seine Premiere. Mit dieser Neuinszenierung setzen die Festspiele ihre Tradition der Wiederentdeckung selten gespielter Meisterwerke fort, in diesem Jahr als Pilotprojekt, mit 3G-Regel, dafür aber ohne Abstand und Maske.
Bei „Notre Dame“ von Franz Schmidt steht Esmeralda im Mittelpunkt
Der österreichische Komponist Franz Schmidt orientiert sich für seine 1914 uraufgeführte Oper an einem der ganz großen Klassiker: „Notre-Dame de Paris“ von Victor Hugo. Das fiktive Porträt der Pariser Kathedrale im Spätmittelalter hat die Bischofskirche zum Nationalsymbol erhoben. Bei Schmidt dreht sich die Handlung allerdings weniger um den buckligen Glöckner Quasimodo, als vielmehr um die betörende Esmeralda, die gleich vier Männern den Kopf verdreht.
Hauptmann Phoebus verliebt sich in Esmeralda und erzählt gerade einem Offizier davon, als Quasimodo vom Mob auf den Platz getrieben und verspottet wird. Dieser gerät in einen handfesten Streit mit Phoebus. Als Esmeralda den Ausgestoßenen vor Schlimmerem bewahrt, taucht der Archidiaconus von Notre-Dame, Stellvertreter des Bischofs von Paris, auf. Mit ihm beginnt die ganze Misere, denn auch er hat sich in die exotische Schöne verliebt und ist regelrecht besessen von ihr. Um sein Zölibat einhalten und sein Seelenheil retten zu können, sieht er nur einen Ausweg: Esmeralda muss sterben.
Schwelgerisch-spätromantische Tonalität
Die einzige Beziehung, die auf Gegenseitigkeit beruht, ist die zwischen Phoebus und Esmeralda. Das farbenreiche Duett der beiden bildet einen leidenschaftlichen Höhepunkt in der Oper, die musikalisch immer wieder die Grenzen der schwelgerisch-spätromantischen Tonalität auslotet. Wenn auch die Oper relativ unbekannt ist, so darf zumindest das Intermezzo aus dem ersten Aufzug bei kaum einem Wunschkonzert fehlen.
Franz Schmidt hat als Cellist im Wiener Hofopernorchester gespielt, weshalb er seine Kompositionen wohl auch vorrangig instrumental konzipiert hat. Das hat positive Auswirkungen auf die Textverständlichkeit der Sängerinnen und Sänger. Überhaupt ist der Klang auf der Bühne fast durchweg sehr überzeugend und gut abgemischt. Eine Meisterleistung des musikalischen Leiters Michael Balke, der höchstens mit dem Chor zu Beginn ein paar kleine Startschwierigkeiten hatte. Doch davon hat der Dirigent selbst kaum etwas mitbekommen, denn er befindet sich mit dem Sinfonieorchester St. Gallen 500 Meter entfernt in der Tonhalle und wird von dort live auf den Klosterhof übertragen. Vor Ort hatte Chorleiter Michael Vogel schnell wieder die Zügel in der Hand.
Geschichte und Gegenwart verschwimmen
In St. Gallen verschwimmen an diesem Premierenabend Geschichte und Gegenwart, Realität und Fiktion. „Die Zeit ist der Baumeister, das Volk der Maurer“, bemerkt Victor Hugo in seinem Roman „Notre-Dame de Paris“. Auf dem Rasen rund um das Festspielgelände haben es sich vornehmlich junge Menschen bequem gemacht, um die Nacht zu den Opernklängen zu feiern. Ihre gedämpften Gespräche dringen ab und an schwach zur Tribüne – oder ist es das Volk, das schon auf Esmeraldas Verurteilung wartet? Und als sei es bereits ein Hinweis darauf, dass die Liebesbeziehung zwischen Esmeralda und Phoebus nicht gut enden kann, heult kurz bevor der Hauptmann von Gringoire, dem vierten Verehrer Esmeraldas, erdolcht wird, ein Martinshorn durch den Klosterhof. Stets präsent ist die Stiftskirche St. Gallen, in der nur wenige Stunden zuvor noch ein Gottesdienst stattgefunden hat. Sie wird nun selbst zum Altar für die Szene der feierlichen Heiligen Messe, in der sich das unwiderrufliche Schicksal Esmeraldas entscheidet. Das Publikum wird zu Gläubigen und zu Zeugen, die die letzten Verrenkungen Esmeraldas im rot-lodernden Schein auf der Fassade beobachten.
Raffiniert und opulent, aber nicht überladen, gehen die einzelnen Elemente eine höchst befriedigende Symbiose miteinander ein: Das voll genutzte Bühnenbild, sowohl in der Breite als auch in schwindelerregender Höhe, die Kostüme, die eine gelungene Mischung aus Offiziersuniformen des 18. Jahrhunderts, liturgischen Gewändern und wildem Boho-Stil sind, die Karnevalsmasken, die als struppige Tannenreisig-Dämonen ebenso gut an Fasnacht durchgehen können, die zurückhaltende Inszenierung, die kreativ durch die Tanzkompanie des Theater St. Gallen ergänzt ist sowie die durchweg hervorragende Leistung aller Sängerinnen und Sänger. So entsteht ein einzigartiges und tief beglückendes Opernerlebnis, das sich doch herrlich normal anfühlt.
St. Galler Festspiele
Schmidt: Notre Dame
Michael Balke (Musikalische Leitung), Carlos Wagner (Regie), Rifail Ajdarpasic (Bühne), Christophe Ouvrard (Kostüm), Guido Petzold (Licht), Benjamin Schultz & Stephan Linde (Sounddesign), Alberto Franceschini (Choreografie), Michael Vogel (Choreinstudierung), Marius Bolten (Dramaturgie), Anna Gabler (Esmeralda), Simon Neal (Der Archidiaconus), David Steffens (Quasimodo), Clay Hilley (Phoebus), Cameron Becker (Gringoire), Shea Owens (Ein Offizier), Chor des Theaters St. Gallen, Opernchor St. Gallen, Prager Philharmonischer Chor, Tanzkompanie des Theaters St. Gallen, Sinfonieorchester St. Gallen