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Opern-Kritik: Staatsoper Berlin – Götterdämmerung

Forschen ohne Auftrag

(Berlin, 9.10.2022) An der Berliner Staatsoper Unter den Linden wurde der neue „Ring“ mit der „Götterdämmerung“ vollendet: Christian Thielemann wird im Kreise der Staatskapelle gefeiert wie sonst nur Daniel Barenboim, den er vertritt. Regisseur Dmitri Tcherniakov muss hingegen heftige Buhs einstecken.

vonRoberto Becker,

Am Ende geht auch diesmal, deutlich jenseits der Sechsstunden-Bruttogrenze, die Welt unter. Zumindest in den eingeblendeten Textzeilen, die Wagner dann doch nicht vertont hat. Und hörbar mit aller denkbaren Weltenbrand-Pracht bei Christian Thielemann und der Staatskapelle im Graben. Den superdetaillierten Grundriss des Forschungszentrums E.S.C.H.E – also die Behauptung der Inszenierung von Dmitri Tcherniakov – hat Brünnhilde da endlich mit einem Fingerschnipsen in seine Pixel zerstieben lassen. Auch die aus dem Nichts auftauchende Erda, mit dem flatternden Waldvögelein in der Hand, ließ sie stehen, um sich vage uns zuzuwenden. Sollte das eine Art feministische Utopie, also etwas irgendwie Grundsätzliches sein? Dann hätten dieser Plan und das gewaltige Bühnenbild mit seinen vielen Räumen einen erkennbareren Bezug zur Welt der Menschen gebraucht, deren Verhalten da angeblich beobachtet wurde.

Wäre das Publikum im Saal die Prüfungskommission, wäre der Regisseur wohl durchgefallen.

Natürlich ist der „Ring“ auch das eine große, die Welt erklärende bzw. deren Untergang an die Wand malende Spektakel. Man kann das sogar in ein Bild, wie Herbert Wernicke, oder in einen Tunnel, wie Götz Friedrich, bannen. Wenn man es kann. Dmitri Tcherniakov hat jetzt in seinem Wagnerstudium (bei dem ihm ein „Tristan“- und ein „Parsifal“-Praktikum in der Staatsoper Unter den Linden gelungen sind) für sein „Ring“-Examen den Kurs Verhaltensforschung mit Institutsdesign kombiniert. Wäre das Publikum im Saal die Prüfungskommission, wäre er da wohl eher durchgefallen. Der Buhsturm war zwar nicht so fanatisch wie der, den Valentin Schwarz im Sommer in Bayreuth auszuhalten hatte. Aber ein Durchwinken war das nicht. Wenn man die große Gesellschaftskritik nicht antreten und gleichzeitig die grassierende Jeder-macht-seins-Mode in Sachen Tetralogie nicht mitmachen will, dann braucht es halt wirklich einen in sich stringenten Zugriff. (Den hatte Valentin Schwarz immerhin in Bayreuth!)

Szenenbild aus „Götterdämmerung“ an der Staatsoper Berlin
Szenenbild aus „Götterdämmerung“ an der Staatsoper Berlin

Die Inszenierung als Diagnose von Verhaltensauffälligkeiten

Der kühne Anfangsverdacht, dass Beobachtung von Verhaltensweisen und Geheimexperimente am lebenden Menschen zum Versuch führen, bewusst einen neuen Menschen zu erschaffen, endete im „Siegfried“ und jetzt in der „Götterdämmerung“ allenfalls mit der Diagnose von Verhaltensauffälligkeiten. Erst in Form von schlechtem Benehmen und empathieloser Mordbereitschaft und dann von unbedarftem Umgang mit Schwüren und Beziehungen. Bei Tcherniakov sind Alberich und Wotan zwar nicht wie bei Schwarz gleich Brüder, auf deren Machtkampf die Dialektik im „Ring“ heruntergebrochen wird. Aber der Kampf zwischen den beiden ist hier das komödiantische Herzstück einer über weite Strecken in den ersten „Ring“-Teilen gelungenen Personenregie.

Szenenbild aus „Götterdämmerung“ an der Staatsoper Berlin
Szenenbild aus „Götterdämmerung“ an der Staatsoper Berlin

Überzeichnung, Parodie und Posse

Die „Götterdämmerung“ liefert davon nur noch einen Abglanz, rettet sich stattdessen durch Überzeichnung, Parodie und Posse. Wenn dieses behauptete Forschungsinstitut – so üppig es auch ausgestattet sein mag – gleichsam im luftleeren Raum schwebt, es keine nachvollziehbare Beziehung zur Außenwelt und ihren Realitäten hat, dann droht Beiläufigkeit. Da helfen die personifizierten Verbindungsleitmotive der in allen Teilen auftauchenden Nornen wenig. Man versteht die Botschaft und wird trotzdem nicht froh. Auch nicht über die nicht sehr feine Desavouierung der alten Damen als am Stock gehende Tratschtanten. Wirklich lustig ist das nicht, auch wenn es bei Noa Beinart, Kristina Stanek und Anna Samui so aussehen soll. Besser funktioniert der Versuch der Rheintöchter (Evelin Novak, Natalia Skrycka, Anna Lapkovskaja), Siegfried den Ring im dritten Aufzug abzuluxen. Da kommt der im Bademantel wie ein Kurgast zur Therapie, kann aber auf der Liege weder Hände noch Füße stillhalten, wenn die drei Therapeutinnen ihm was erzählen. Das hat wenigsten mal szenischen Charme. Andreas Schager erweist sich in Berlin zwar als wirklich kraftvoll exzellenter Siegfried, der sich auf jede Orchesterlautstärke einstellen kann und dessen Stimme auch nicht versandet, wenn Christian Thielemann sich gemächlich dem Stillstand nähert. Aber ein so begnadeter Darsteller wie Volle oder Kränzle (der auch als nackter Greis überzeugt, wenn er seinen Sohn zu manipulieren versucht) ist er nicht. Da wirkt dann manches Tänzchen einfach nur wie angewiesen und unbeholfen umgesetzt.

Szenenbild aus „Götterdämmerung“ an der Staatsoper Berlin
Szenenbild aus „Götterdämmerung“ an der Staatsoper Berlin

Wirklich spannend sind viele Szenen nicht.

Wie jede (offensichtlich neue, woher auch immer kommende) Leitung haben Gunther (verbindlich: Lauri Vasar) und Gutrune (sehr blond und kichernd: Mandy Fredrich) erstmal renoviert. Das Auditorium hat überlebt – schon, weil es für das große Spektakel gebraucht wird, wenn Gunther seine Braut Brünnhilde vorstellt. Die lässt das ganze platzen, und alle zücken ihr Handy, wenn drauflos geschworen wird. Den Einwegspiegel hinterm Schreibtisch wie zu Wotans Zeiten gibt es nicht mehr, aber das wändelose Gerüst der Wohnung mit Bett, Tisch, Küche und Dusche gibt es noch. Hier wohnen jetzt Siegfried und Brünnhilde, hier orakeln die Nornen beim Tee, hier kreuzt Waltraute (Violeta Urmana) zum Besuch bei der Schwester auf. Sonderlich spannend gerät das alles in dieser Restwohnung nicht. Spannung kommt erst auf, wenn Siegfried (ohne jede Verkleidung, nur mit einer Nuance tiefer gelegter Stimme) aufkreuzt und behauptet, er wäre Gunther. Nun ja.

Szenenbild aus „Götterdämmerung“ an der Staatsoper Berlin
Szenenbild aus „Götterdämmerung“ an der Staatsoper Berlin

Siegfried im Stresslabor

Beim Sport schließlich verrät sich Siegfried vor versammelter Mannschaft, weil er sich zur Erinnerung verführen ließ (auch ohne Drogen) und gerne mit seiner Biografie angibt. Hier versucht Gunther das Schlimmste zu verhindern (obwohl er ja zusammen mit Brünnhilde und Hagen selbst die Voraussetzungen für den Mord in aller Öffentlichkeit geschworen hat). Aber Hagen (von wuchtiger Präsenz in jeder Hinsicht: Mika Kares) greift zur Fahnenstange und sticht zu. An der Bahre mit dem toten Siegfried im Stresslabor versammelt sich zu den Klängen des Trauermarsches nach und nach die gesamte Belegschaft. Wirklich getroffen sind aber nur wenige. Wie der alte Institutsdirektor und Großvater des Ermordeten. Wotan sichtbar um Siegfried trauern zu lassen, ist zwar keine szenische Erfindung Tchernaikovs (es war schon eine der eindrucksvollsten Szenen des „Rings“ von Joachim Herz) – aber dieser personelle Luxus (es ist tatsächlich Michael Volle, der da auftaucht) macht Eindruck und Brünnhilde bekommt so die Chance, sich quasi mit ihrem Vater auszusöhnen, kann sie ihn hier doch dabei auch ansehen, wenn sie ihn ansingt. Für ihren Schlussgesang hat Anja Kampe klug gespart – er gelingt ihr mit berührender Intensität. Dass sie auf dem Weg dahin mitunter an ihre Grenzen geriet, sieht man ihr gerne nach. Sie ist keine exemplarisch hochdramatische, aber eine reflektiert berührende Brünnhilde.

Szenenbild aus „Götterdämmerung“ an der Staatsoper Berlin
Szenenbild aus „Götterdämmerung“ an der Staatsoper Berlin

Man orakelt über eine verlockende Nachfolgemöglichkeit.

Christian Thielemann blieb bei seinem Tempo – auf das man sich, zugegebenermaßen bewusst, einlassen muss, um es zu genießen. Und für das er ein im Ganzen so handverlesenes Ensemble braucht, wie er es in Berlin zur Verfügung hatte. Ob nun beabsichtigt oder nicht – Thielemann in der Mitte der Musiker der Staatskapelle auf der Bühne bei euphorischem Schlussapplaus für die Musik. Das kann man sich gut auch in Zukunft vorstellen. Die guten Genesungswünsche, die der Intendant vor Beginn der Vorstellung an den erkrankten Daniel Barenboim richtete, wurden davon unabhängig vom Publikum unisono mit von Herzen kommendem Beifall bedacht.

Staatsoper Berlin
Wagner: Götterdämmerung

Christian Thielemann (Leitung), Dmitri Tcherniakov (Regie & Bühne), Elena Zaytseva (Kostüme), Gleb Filshtinsky (Licht), Alexey Poluboyarinov (Video), Andreas Schager, Lauri Vasar, Johannes Martin Kränzle, Mika Kares, Anja Kampe, Mandy Fredrich, Violeta Urmana, Noa Beinart, Kristina Stanek und Anna Samuil, Evelin Novak, Natalia Skrycka, Anna Lapkovskaja, Anna Kissjudit, Michael Volle, Staatsopernchor, Staatskapelle Berlin

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