Es gab schon Inszenierungen von Camille Saint-Saëns’ typisch französisch schwelgender, alttestamentarischer Geschichte von Samson und Dalila, bei denen es im Vorfeld jede Menge Ärger gab. In Antwerpen wähnten manche die Interpretation eines israelisch-palästinensischen Regieduos zu nah an der politisch brisanten Gegenwart und befürchteten ernsthafte Auseinandersetzungen zwischen den heute lebenden (zumindest gefühlten) Nachfahren der Akteure in der uralten Geschichte. In Köln warfen einige Choristen demonstrativ hin, weil ihnen die Gewaltszenen von Tilman Knabe zu brutal erschienen.
Der Bühnennebel wallt
Das ist beides zehn Jahre her. In der neuen Inszenierung an der Lindenoper besteht die Gefahr eines Funkenfluges wegen Gegenwartsbrisanz der Szene nicht. Hier lässt Etienne Plus den Bühnennebel vor sich hin wallen. Hier ziehen Wolken im Hintergrund auf oder ein Himmelskörper seine recht seltsamen Bahnen. Hier rücken die Kostüme von Gesine Völlm sowohl die leidenden Hebräer als auch die kriegerisch auftrumpfenden Philister in eine so weite historische Ferne bzw. in die Nähe jener Bilder, die Hollywood vor 60 Jahren produziert und allen Filmkonsumenten so ins Hirn gebrannt hat, dass man sie für authentisch hält. Also in jene Bereiche der Erinnerung, in denen Cleopatra wie Liz Taylor aussieht und nicht etwas umgekehrt.
Verschüttet unter den Trümmern von Pappmaschee und Styropor
Gerade die per se multimediale Kunstform Oper hat aber die Chance, eine durch die gefühlsbetonte musikalische Ebene und die aufs Librettomaß doppelt komprimierte Verfremdung einer überlieferten Geschichte in der Ebene der szenischen Interpretation hin zur Gegenwart zu öffnen, Assoziationen auszulösen, das Exemplarische aufzuspüren. Der Versuch aber, eine alttestamentarische Geschichte in „ihre“ Zeit geradezu naturalistisch zurückzuverlegen, blockiert jeden Zugang; verschüttet – im Unterschied zum Finale von Damián Szifrons Opern- bzw. Musiktheatermissverständnis an der Lindenoper – wirklich alles unter den Trümmern von Pappmaschee und Styropor.
Stehen, Schreiten, Singen
Im ersten Teil wird fast nur rumgestanden, höchstens geschritten. Wirklich szenische Funken schlägt selbst die Liebesszene nicht, die Dalila in ihrer Felsenhöhle mit Ausblick einzig mit dem Ziel arrangiert, um im Auftrag des Oberpriesters der Philister dem Anführer der Hebräer Samson seiner Haare, sprich seiner Kraft, zu berauben –nach einem ausführlichen, musikalisch schwelgerischen Liebesduett mit anschließend eskalierendem Verhör. Sie hat ihm Liebe vorgegaukelt und war nur auf das Geheimnis seiner Stärke scharf. Dass es da eventuell auch ein Fünkchen echten Gefühls gegeben haben könnte, behaupten szenische Doubles der beiden Titelhelden in einer fast schon peinlichen Choreografie der Utopie eines gemeinsamen Lebens mit Kindern. Auch am Ende tauchen die Beiden noch einmal auf, sollen wohl einen Kontrapunkt setzten. Aber solche Zeichen bleiben Behauptungen, die man fast übersieht, jedenfalls werden sie nicht zur Bühnenwirklichkeit. Auch, dass Dalila den Oberpriester im Tumult der Schlussszene ersticht, geht unter. Der demonstrativen Eiseskälte, die Elīna Garanča mit ihrem statischen Gebaren ausstrahlt, können sie keine andere emotionale Temperatur hinzufügen. Immerhin überzeugt sie – rein vokal – vor allem mit der Mittellage und bei den aufstrahlenden Höhen. Wie tief die Partie eigentlich liegt, merkt man, wenn sie die Tiefen mehr technisch gemeistert als wirklich mit dunklem Glanz erfüllt. Garanča war insgesamt dennoch beeindruckend – eine Sternstunde, die sie über dem Ensemble schweben lässt, war ihre Dalila freilich nicht.
Sandalenfilmoper
Dass seine weiblichen Fans dem Helden Samson die Füße gleich mit seinen Sandalen wuschen, mag ein unbewusstes Zugeständnis ans Genre der Sandalenoper gewesen sein, in dessen Mitte der Regisseur bei seinem Schlusssprung vom Filmset ans Opernregiepult gelandet war. Brandon Jovanovich muss nach der jesushaften Zurückhaltung im ersten Teil nach der Pause als prominenter Gefangener allerhand mit sich machen lassen. Da darf jeder von den Philistersoldaten auf den an den Händen aufgehängten prominenten Gefangenen mal einschlagen, da wird er geschoren, geblendet, herumgeschubst. Stimmlich lieferte er eine ausgeglichen beeindruckende Leistung. Die bot natürlich – wie nicht anders zu erwarten – auch Michael Volle als Oberpriester des Dagon im prachtvollen Ornat, mit großer Geste und seiner raumfüllenden Stimme. Wenn er die Szene betritt hat sie auf einmal eine Mitte – egal ob die anderen nur rumstehen oder sich im Gewaltexzess einer Tempelorgie ergehen. Volle hinterließ als Persönlichkeit mit Charisma und Prachtstimme mal wieder den stärksten Eindruck auf der Bühne.
Dank an Daniel Barenboim
Musikalisch ist nichts einzuwenden gegen diesen Ausflug der Staatsoper ins französische Fach. Vor allem Dank Daniel Barenboim, der ihm mit Lust und Sensibilität folgenden Staatskapelle, einem von Martin Wright einstudierten Staatsopernchor in Hochform und dem alles in allem beeindruckenden Protagonisten! Der Rest ist Klischee und Pappmaschee.
Staatsoper Berlin
Saint-Saëns: Samson et Dalila
Daniel Barenboim (Leitung), Damián Szifron (Regie), Étienne Pluss (Bühne), Gesine Völlm (Kostüme), Olaf Freese (Licht), Judith Selenko (Video), Tomasz Kajdański (Choreografie), Martin Wright (Choreinstudierung), Elīna Garanča (Dalila), Brandon Jovanovich (Samson), Michael Volle (Oberpriester des Dagon), Kwangchul Youn (Abimelech), Wolfgang Schöne (Ein alter Hebräer), Andrés Moreno García (Erster Philister), Jaka Mihelač (Zweiter Philister), Javier Bernardo (Bote der Philister), Staatsopernchor, Staatskapelle Berlin