Startseite » Oper » Opern-Kritiken » Wie die Zeit vergeht

Opern-Kritik: Staatsoper Berlin – Siegfried

Wie die Zeit vergeht

(Berlin, 6.10.2022) An der Staatsoper Unter den Linden wurden das Orchester unter Christian Thielemann und die Protagonisten des neuen „Siegfried“ enthusiastisch gefeiert. Und die Regie von Dmitri Tcherniakov macht trotz manch mangelnder Logik immer wieder richtig Spaß.

vonRoberto Becker,

Für den ersten „Siegfried“-Aufzug braucht es immer eine Extraportion Wagnerenthusiasmus. Die Wissenswette, die der Wanderer Mime aufzwingt, mit ihrem „Was bisher geschah“ zieht sich und bringt nichts Neues. Auch sind Mimes Erziehungserfolge in Sachen Siegfried mäßig. Sowohl im Hinblick auf das allgemeine Verständnis von Benehmen, also auch, was die wahren Absichten betrifft, die er mit dem Knaben verfolgt. Wenn man dazu auch noch auf ein zugemülltes Notunterkunftsambiente verzichtet, sondern stattdessen die Versuchslaborwohnung eines (übrigens sündhaft teuren) Institutsbühnenbildes bewohnt, dann muss man sich schon was einfallen lassen, um keine Langeweile aufkommen zu lassen oder nur auf das rein musikalische Charisma, mit dem Christian Thielemann und Staatskapelle wieder überwältigen, zu setzten.

Der heimtückische Ziehvater und der Götterenkel

Die nüchterne Behausung (samt Beobachtungsspiegel) hinter dem Büro des Institutschefs, in der der heimtückische Ziehvater und der Götterenkel zu Objekten von soziologischer Beobachtung werden, kennen wir schon. Die Wissenswette wird dann aber doch noch unterhaltend, weil Michael Volle der ungebetene Gast mit Vorliebe für Fragespiele auf Leben und Tod ist. Selbst dann (oder gerade wenn) er nur noch in Rentnerbeige mit Socken in Sandalen und am Stock auftaucht. Michael Volle ist auch als Bühnenrentner einfach nur großartig.

Szenenbild aus „Siegfried“ an der Staatsoper Berlin
Szenenbild aus „Siegfried“ an der Staatsoper Berlin

Schon hier im Schlagabtausch mit Mime, der bei Stephan Rügamer auch ein stimmlich flexibler Senior ist, der von lauter Ticks geplagt wird. Vor allem aber, wenn er sich ein Altherren-Duell mit Alberich liefert, den Johannes Martin Kränzle ebenso stimmlich wohldosiert und komödiantisch kurz vor der Bloßstellung der Figur, mit der Gehilfe durch die verwaisten und gänzlich leergeräumten Institutsräume tappen lässt. Es gehört zu den Feinheiten der Personenregie von Tcherniakov, dass Alberich beispielsweise mürrisch die Hand Wotans zurückweist, als der eine alte Mann dem anderen einfach nur reflexartig beim Aufstehen helfen will. Wie es zwischen diesen beiden Alten menschelt, das ist unterhaltendes Theater vom Feinsten. Und obendrein mit exzellenter Eloquenz ausgestattet.

Detailliert bis in den letzten Winkel des Gesagten und Gemeinten ausgeleuchtet

Volle liefert die Steilvorlagen für solche Kabinettstücke aber auch in den Begegnungen mit der vokal faszinierend dunkel gestaltenden Erda Anna Kissjudit. So detailliert bis in den letzten Winkel des Gesagten und Gemeinten ausgeleuchtet, hat man die Szene zwischen Wotan und Erda bislang noch nicht gesehen. Und das liegt nicht nur an Thielemann, der sich wieder alle Zeit der Welt nimmt und bei keiner seiner Dehnungen langweilt. Die spielen jedes Wort, das sie singen. Und das gelingt beiden. Bevor der ergraute Alt-Gott aber Erda einen Tee serviert und dann die Fassung verliert, auf sie losgeht und regelrecht würgt, gibt es noch ein szenisches Schmankerl als Entree. Da stürmt nämlich der alte Ex-Chef in seiner Freizeitaufmachung in den (jetzt plötzlich wieder mit Personal gefüllten) Konferenzraum und muss seine gesamte Restautorität aufbieten, um die ganze Bagage aus dem Saal zu scheuchen. Das steht zwar nicht bei Wagner – hier hat Tcherniakov direkt aus dem Leben abgekupfert. Und solche Szenen machen Spaß. Auch wenn man besser nicht so genau nach der Logik fragen sollte.

Szenenbild aus „Siegfried“ an der Staatsoper Berlin
Szenenbild aus „Siegfried“ an der Staatsoper Berlin

Wenn Taschenspielertricks mit der Plausibilität kollidieren

Abgesehen davon, dass es schon starker Tobak ist, wenn die Morde an Fafner (Peter Rose muss hier in Zwangsjacke und gefesselt einen kreuzgefährlichen Irren mit kannibalischen Gelüsten geben, was er mit aller Bravour auch macht) und Mime Teil eines Menschenexperimentes werden. Irgendeine Verbindung zur Außenwelt (wie noch in der „Walküre“) scheint es jedenfalls nicht mehr zu geben. Die unterschiedlichen Zeitverläufe und ihre Wirkung auf Brünnhilde oder Wotan und Alberich sind bei Wagner kein Problem – da walten ja die diversen Zauberkräfte, da kann man einfach behaupten. In einem der Wirklichkeit der Welt nachempfundenen Institut allerdings kollidieren solche Taschenspielertricks mit der Plausibilität.

Auf dem Weg ins Schlaflabor

Siegfried ist also im Labor der unbekümmert unreflektierte Haudrauf geworden, der sich nach vielen Jahren aufmacht, den Rest des Institutes kennen zu lernen, zwei Leute umbringt, und sich dann von einer attraktiven Mitarbeiterin im weißen Kittel ziemlich handzahm den Weg ins Schlaflabor (hinreißend: Victoria Randem) vorträllern lässt. Wobei er im Konferenzraum einen seltsamen alten Herrn begegnet, der ihm kumpelhaft kommt, aber den Weg ins Schlaflabor versperrt. Und der bei der Gelegenheit sogar doch noch auf den allerletzten Drücker den Speer findet, von dem schon gelegentlich die Rede war, ohne dass man dieses Artefakt zu Gesicht bekommen hätte. Er taugt eh nichts und zerbricht von selbst, während Siegfried die Tür, durch die er nicht gehen soll, einfach so mit der Faust einschlägt.

Szenenbild aus „Siegfried“ an der Staatsoper Berlin
Szenenbild aus „Siegfried“ an der Staatsoper Berlin

Ein grandioses „Siegfried“-Finale dank Andreas Schager und Anja Kampe

Wenn Andreas Schager und seine Brünnhilde Anja Kampe dann aber zu einem wirklich grandios geratenden „Siegfried“-Finale ansetzten, bei dessen aufschimmernder Opulenz Thielemann es bei aller Getragenheit zugleich auch mal krachen lässt, knüpft der Regisseur quasi nebenbei an seinen extravaganten Schluss der „Walküre“ an. Da war ja Wotan samt Hörsaal entschwunden und Brünnhilde an der Rampe sozusagen bei uns geblieben. Was sie in der Zwischenzeit gemacht hat? Wer weiß. Jedenfalls ist sie in den vielen Jahren vergangener Bühnenzeit maximal um zwei Tage gealtert – also fast nicht. Der seinerseits um Jahrzehnte gealterte Wotan aber bringt die jung Gebliebene jetzt persönlich ins Schlaflabor, deckt sie mit Silberfolie zu und vergisst auch das Stoffross nicht. Was er hier macht, ist ein Fall von auf dem Silbertablett Servieren, nach dem Motto: der Enkel soll was davon haben.

Szenenbild aus „Siegfried“ an der Staatsoper Berlin
Szenenbild aus „Siegfried“ an der Staatsoper Berlin

Schaut, wie ich das gemacht habe, scheint seine Geste zu sagen, mit der er den Nornen im Rang des Institutsauditoriums präsentiert, was er da eingefädelt hat. In einer Melange aus vergnügtem Rumalbern und plötzlich auflodernden echten Gefühlen zelebrieren Schager und Kampe dieses grandiose „Heil-dir“-Liebesgesäusel. Bis sie sich herzlich umarmen und der enthusiastische Jubel zuerst über die beiden hereinbricht, um schließlich alle zu erfassen, die ihren Teil zu einem wirklich grandiosen Wagner-Triumph beigetragen haben. Was war, wissen wir und die Nornen, die immer dabei waren, werden es uns in aller Ausführlichkeit noch mal erzählen. Was aus dem ganzen Institut wird, das werden wir noch sehen.

Staatsoper Berlin
Wagner: Siegfried

Christian Thielemann (Leitung), Dmitri Tcherniakov (Regie & Bühne), Elena Zaytseva (Kostüme), Gleb Filshtinsky (Licht), Alexey Poluboyarinov (Video), Andreas Schager, Stephan Rügamer, Michael Volle, Johannes Martin Kränzle, Peter Rose, Anna Kissjudit, Anja Kampe, Staatskapelle Berlin

Auch interessant

Rezensionen

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!