„O Sonne! Leben! Ewigkeit!“ – Der mit viel Pomp und Glorie strahlende Jubelchor am Ende von „Turandot“ geht jedes Mal wieder unter die Haut, hat aber auch immer etwas Fragwürdiges an sich. Denn musikalisch wird hier zweifellos ein Happy End verkauft, doch ist dies ein mehr als trügerisches: Da wäre nämlich zum einen der so vermeidlich ehrbar und kühn daherkommende Prinz Calaf, der in einem jähen Anflug von Egomanie die blutigen Rätselspiele seiner Angebeteten weiterspielt – zum Leid des gesamten Volkes. Zum anderen ist da Turandot, die brutal herrschende, unnahbare, gefühlskalte Prinzessin, die zahllose Bewerber hinrichten ließ, sämtliche Annäherungsversuche abwehrt und sich schließlich doch von einem aufgezwungenen Kuss umstimmen lässt – weil (Achtung, Ironie:) Frauen ja eigentlich doch immer „Ja“ meinen, wenn sie „Nein“ sagen. Puccini, der hierum viel mit sich und seinen Librettisten rang, konnte dieses Problem einer vergifteten, auf Blut, Tod und Unterdrückung basierenden Liebe nicht mehr selber lösen, er starb 1924 während der Arbeit am Werk. Franco Alfano wurde mit der Vollendung beauftragt und entschied sich für die idealistische Variante.
Die Regisseurin erkennt die Bruchstellen des Werks
Regisseurin Yona Kim, die beim Hamburger Publikum mit Ruzickas „Benjamin“ (2018) und Bellinis „Norma“ (2020) schon für die eine oder andere Kontroverse sorgte, zieht im Zuge dieser finalen Unstimmigkeit, die schon zur Entstehungszeit nicht so recht funktionieren wollte – geschweige denn heute –, die einzig logische Konsequenz: Turandot gesteht vor aller Augen und Ohren ihre Liebe zu Calaf, doch noch während die Menge in großen Tönen jubelt, zieht sie ein Messer und sticht den selbstgefällig triumphierenden Prinzen kaltblütig ab. Der Mob ist außer sich.
Linientreue Kälte statt herzenswarmer Romantik
Yona Kim erzählt hier ein Schauermärchen, dem von Grund auf eine mystische Atmosphäre innewohnt, das jedoch auf Wunder und jeglichen Zauber verzichtet. Hier ist nur der Mensch am Werk, linientreue Kälte statt herzenswarmer Romantik. Die bewegungsreiche Bühne von Christian Schmidt ist meist in düsterem Zwielicht gehalten. Eine schwarze Treppe im Zentrum führt hinauf zu den eindrucksvollen, überdimensionalen, aber unwohnlichen Räumen des Palastes. Durch häufiges Auf- und Zufahren der Bühnenwände werden dabei rückblendenartig immer wieder Einblicke in das Innenleben und die Vergangenheit der titelgebenden Protagonistin geliefert. Ergänzt wird das Ganze durch gelegentliche Projektionen, wie dem in dieser Oper besonders schicksalsbehafteten, fast den gesamten Bühnenraum umfassenden Mond.
Die Turandot der Anna Smirnova mit scharfkantigem, Mark und Bein durchdringendem Sopran
Anna Smirnova, die erst im zweiten Akt in Erscheinung tritt – und in ihrem üppigen, luziferroten, mit schwarz-roter Boa versehenem Herrscherinnenkleid (Kostüme: Falk Bauer) ist sie wahrhaftig eine Erscheinung – gibt sich als stimmgewaltige, selbstbestimmte, durch prägende Erlebnisse in der Vergangenheit erkaltete Turandot. Ihr gnadenlos scharfkantiger, Mark und Bein durchdringender Sopran lässt sich auch von der lautesten Piccoloflöte nicht bezwingen, ist aber ebenso zu leisen Passagen fähig. Turandots figurativer Gegenpart, die liebenswerte, gutherzige, doch nicht minder charakterstarke Liù, grenzt sich durch die gläsernen, zart fließenden Töne Guanqun Yus deutlich davon ab. Ihr gehören unumstritten die herzschmelzenden Momente des Abends, als sie sich im Namen der Liebe, um Calaf und auch dessen Vater zu schützen, aufopferungsvoll das Leben nimmt. An dieser Stelle glänzt auch Liang Li als trauernder Timur mit reuevollem Bass. Dass der Tod Liùs die letzte Szene der Oper ist, die Puccini noch selbst komponierte, unterstreicht Regisseurin Yona Kim mit einer kleinen Hommage: Die Aufbahrung Liùs auf einer Liege mit weißen Blumengestecken ähnelt dem Totenbett des Maestros, dessen Foto bei einem kurzen Moment der Stille auf die Bühnenleinwand geworfen wird.
Gregory Kunde singt „Nessun dorma“ mit Bravour
Dreh- und Angelpunkt für viele Opernbesucher und Hopp-oder-Top-Moment des Tenorparts ist natürlich die berühmte „Nessun dorma“-Arie zu Beginn des dritten Akts. Der Amerikaner Gregory Kunde, der von vorne bis hinten eine großartige Leistung zeigt, besteht die Gänsehaut-Prüfung mit Bravour und erntet seinen verdienten, langanhaltenden Szenenapplaus. Sein Calaf ist gewollt kein Sympathieträger, aber ein geradliniger, starker und selbstsicherer Tenor, den nichts von seinem Vorhaben abbringt, nicht einmal die drei bislang unlösbaren Rätsel der Prinzessin. Um ihn herum tummeln sich immer wieder die drei glatzköpfigen Minister Ping, Pang und Pong. Die Komplexität dieser Figuren wird von Roberto de Candia, Daniel Kluge und Seungwoo Simon Yang exzellent herausgebracht, erscheinen sie doch erst als komödiantisch auflockerndes Element, bevor auch sie sich – spätestens bei der Folterszene von Liù – als grausame Exekutive eines diktatorischen Regimes entpuppen. An dessen Spitze sitzt mit Jürgen Sacher als Altoum ein glaubwürdiger ruhestandsreifer Kaiser, der trotz Tatterigkeit eine unumstößliche Autorität, Kontrolle und Macht verkörpert.
Im rauschhaften Stimmenmeer des Chores
Bewegend gehuldigt wird dem hohen Herrscher vom demütigen Volk, das von Falk Bauer teils in einheitliche Abendgarderobe, teils in stereotype Militäruniformen gesteckt wurde. Insgesamt mischen sich in der Ausstattung wie auch in der gesamten Szenerie Elemente aus der Entstehungszeit der Oper mit traditionell chinesischen Komponenten. Während der gesamten Oper – die mit zahlreichen Massenszenen nicht umsonst als Puccinis Choroper bezeichnet wird – geht der Hamburger Staatsopernchor mit voller Hingabe aus sich heraus. Sowohl bei folgsam strahlenden Treuebekundungen, als auch beim blutdurstigen Wahnsinn bevorstehender Hinrichtungen versinkt man ergriffen im turbulenten, rauschhaften Stimmenmeer. Auch das Orchester entlädt sich mit raumfüllenden Kraftakzenten. Giacomo Sagripanti hält am Pult Gesang und Instrumentales in angemessenen Verhältnissen, hat es jedoch hie und da ein wenig eilig, gerade das Finale des ersten Akts läuft dabei Gefahr, im hohen Tempo zu verschwimmen. Insgesamt entpuppt sich Hamburgs neue „Turandot“ von Yona Kim jedoch als sehr sehenswerte Produktion, die mit einem sehr starken Ensemble und viel innerer Spannung aufwarten kann.
Staatsoper Hamburg
Puccini: Turandot
Giacomo Sagripanti (Leitung), Yona Kim (Regie), Christian Schmidt (Bühne), Falk Bauer (Kostüm), Reinhard Traub (Licht), Philip Bußmann (Video), Angela Beuerle (Dramaturgie), Eberhard Friedrich (Chor), Luiz de Godoy (Kinder- und Jugendchor), Anna Smirnova (Turandot), Jürgen Sacher (Altoum), Liang Li (Timur), Gregory Kunde (Calaf), Guanqun Yu (Liù), Roberto de Candia (Peng), Daniel Kluge (Pang), Seungwoo Simon Yang (Pong), Chao Deng (Un Mandarino), Kinder- und Jugendchor der Hamburgischen Staatsoper, Chor der Hamburgischen Staatsoper, Philharmonisches Staatsorchester Hamburg