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Musical-Kritik: Staatsoper Hannover – Chicago

Struggle for Life

(Hannover, 6.12.2024) Messerscharfe rhythmische Präzision konturiert die Figuren und Ensembles in Kanders „Chicago“. Auch szenisch geht dank Regisseur Felix Seiler und Choreograf Danny Costello an der Staatsoper Hannover die ganz große Show über die Bühne.

vonMichael Kaminski,

Schlimmer als von Revolverblättern niedergemacht zu werden, ist, von ihnen vergessen zu werden. Velma Kelly und Roxie Hart arbeiten verbissen und gegeneinander an ihrer Medienpräsenz. Es geht ums Überleben. Beiden Mörderinnen droht die Hinrichtung. Nur, wer es auf die Titelseiten schafft, hat Aussicht auf Freispruch. Samt Karriere im Showbizz. Wofür dann die Anstaltsleiterin Mama Morton sorgt. Die lässt sich solche Fürsorge reichlich vergüten. Regisseur Felix Seiler kostet an der Staatsoper Hannover weidlich aus, wie arg „Chicago“ inflationär auf Falschheit und Verstellung beruht. Das Übermaß an Betrug und Blendwerk schlägt in Lächerlichkeit um. Seiler erwischt die Personnage im Kippmoment. Die Hinrichtungskandidatinnen lügen, dass sich die Balken biegen. Sofern das mit Unterhaltungswert geschieht, ist der Freispruch reine Formsache. Das Erfolgsgeheimnis liegt in der durchtriebenen Präsentation von Bewährtem: Je gefühliger desto besser. Eine schwangere Schöne in der Zelle weiß Geschworene und Presse nicht minder für sich einzunehmen als das tränenreiche Geständnis, angesichts der Nullnummer von Gatten, einem draufgängerischen Verführer erlegen zu sein. Echte Solidarität ist unbekannt. Rasch erweisen sich vermeintliche Beziehungen als bloße Geschäftskontakte.

Szenenbild aus „Chicago“ an der Staatsoper Hannover
Szenenbild aus „Chicago“ an der Staatsoper Hannover

Durch und durch korrumpiertes System

Die Verdorbenheit ist systemisch, individuelle Schuldzuweisung nicht zielführend. Kluger Weise enthält sich Seiler daher moralinsaurer Bewertungen. Und so gönnt die Spielleitung ihrem Publikum jenes Amüsement, das sich bei Betrachtung der Verhältnisse von außen einstellt. Velma und Roxie dürfen jene strebsamen Stehauffrauen verkörpern, wie sie sich in Aberdutzenden von Hervorbringungen der US-amerikanischen Unterhaltungsindustrie ins Rampenlicht vorarbeiten. Bloß, dass sich in Chicago solch‘ optimistische Grundhaltung als in Wahrheit zähnefletschender Raubtierkapitalismus entlarvt. Freilich – und das ist das eigentlich Gefährliche – einer mit durchtriebenem Charme, schneidendem Sarkasmus, zündenden Pointen und allem voran: Jazz. Keine Frage, da geht die ganz große Show über die Bühne. Choreograf Danny Costello trimmt die Chose auf Broadway-Format. Trotz aller genreüblichen tänzerischen Munterkeit, tendiert Costello angesichts der fiesen Machenschaften zu bärbeißigem Witz. Doch behält immer jene Leichtigkeit die Oberhand, ohne die Handlung und Figuren nicht zu ertragen wären. Für alles dies ersinnen Timo Dentler und Okarina Peter viel Pailletten-Glimmer, weniger Glamour. Der Knast verfügt eben über keinen Broadway-Etat. Dafür sind die Glitzerklamotten wandelbar und lassen sich flugs von der Abendrobe in den Mini umfunktionieren.

Szenenbild aus „Chicago“ an der Staatsoper Hannover
Szenenbild aus „Chicago“ an der Staatsoper Hannover

Showtime in der Haftanstalt?

Hingegen gibt Dentlers und Peters Bühnenraum weder Haftanstalt noch Showtime auch nur anflugsweise zu erahnen. Eine Reihe von gleichförmigen, lediglich aus Trittstufen bestehenden und daher semitransparenten Treppen eröffnet zusammengeschoben die Option auf eine Art Amphitheater oder Arena und entwickelt hintereinander gestaffelt einigen Tiefenzug. Hier scheint jene monumentale Stiege in einzelne Segmente aufgespalten, mit der das Duo im vergangenen April für den Doppelabend aus Eötvös‘ „Ohne Blut“ und Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ in Osnabrück für Aufsehen gesorgt hat. In Hannover fehlt das Zwingende der überdies proportional zu den Bühnenmaßen recht bescheiden gehaltenen Konstruktion.

Szenenbild aus „Chicago“ an der Staatsoper Hannover
Szenenbild aus „Chicago“ an der Staatsoper Hannover

Musikalisch ein Hit

Gleich der Regie überzeugt die musikalische Seite. Im Graben lässt Piotr Jaworski das Niedersächsische Staatsorchester Hannover der Personnage auf der Bühne mächtig einheizen. Messerscharfe rhythmische Präzision konturiert die Figuren und Ensembles. Es wird laut, ohne zu lärmen. Jeannine Michèle Wacker verleiht Roxie Hart die Ausdauer und Durchsetzungsfähigkeit eines nimmermüden Energiebündels. Wackers ebenso schlanker wie gut fokussierter Sopran passt dazu. Warm und raumgreifend gebietet Karin Seyfried über vokale Gaben, die beinahe schon zu Jerry Hermans Titelfiguren tendieren. Für Mama Morton dürfte Patricia Hodell getrost ein wenig mehr „Röhre“ aufbieten. Fabio Diso gibt den windigen Advokaten Billy Flynn. Als Roxies leicht unterkomplexer Ehemann Amos Hart nimmt Philipp Kapeller ganz unbedingt für sich ein.

Staatsoper Hannover
Kander: Chicago

Piotr Jaworski (Leitung), Felix Seiler (Regie), Timo Dentler & Okarina Peter (Bühne & Kostüme), Fabian Grohmann (Licht), Sascha Vredenburg (Video),  Danny Costello (Choreografie), Jeannine Michèle Wacker, Karin Seyfried, Fabio Diso, Patricia Hodell, Philipp Kapeller, Richard Patrocinio, Christopher Bolam, James Cook, Martin Mulders, Jessica Rühle, Daniela Tweesmann, Janina Moser, Maria Joachimstaller, Robert Johansson, Veronica Appeddu, Tobias Stemmer, Niedersächsisches Staatsorchester Hannover






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