München. Ein imposanter Lichthof verweist auf das Haus für Kunst. Darin steht eine athletische Bronzefigur im martialischen Stil Arno Brekers. Die Zeit ist unklar. Eine Museumsmitarbeiterin führt Selfie-schießende Touristen durch die Räumlichkeiten. Sie berichtet von den Olympischen Spielen, die 1972 in der Bayerischen Landeshauptstadt stattfanden, und davon, was bis heute die Erinnerung daran überschattet. Es laufen ihr schleichend immer mehr Informationen über die Lippen. Staccatoartig. Schnitt. Die Bühne dreht sich weiter, das Publikum in der Staatsoper Hannover blickt nun auf einen Läufer im Schaukasten. Sein Trainer treibt ihn zur Höchstleistung an. Weitere Szenen folgen: Gewichtheber, Fechterinnen – alle in Glaskästen, alle Vertreter ihrer Nationen und Gefangene eines zermürbenden Siegesdrucks. Schnitt. Alle Glaskästen stehen nun auf der Bühne, umringt von geifernden Zuschauern, in deren Jubel fast untergeht, dass nun das Unvermeidliche passiert: die Glaskästen füllen sich mit Blut – eine Tragödie geschieht. Die Klimax des Stücks ist erreicht, doch „the games must go on“, die Oper muss es auch.
Einen angemessenen Zugang finden
Freilich ist das Sujet von „Echo 72“, das Komponist Michael Wertmüller und Librettist Roland Schimmelpfennig nun in Hannover uraufgeführt haben, alles andere als leicht. Eine Oper über das Olympiaattentat von München zu schreiben, einem der tragischsten Kapitel jüngerer deutscher Geschichte, scheint in seiner Komplexität fast nicht umsetzbar. Dem ist sich Schimmelpfennig, der zu den gefragtesten und meistinszenierten Librettisten der Gegenwart zählt, auch bewusst. Seine Textvorlage ist keine dokumentarische Nacherzählung, sie ist vielmehr eine komplexe Vermischung von Erwartungen, Sehnsüchten und Reflexionen über den Sport. Der olympische Geist wird zum Mantra erhoben und zum Antrieb der Athleten. Nur bruchstückhaft vermengen sich die historischen Elemente darin. Der Clou dabei ist, wie das engstirnige Siegesdenken und der öffentliche Voyeurismus unterhaltungssüchtiger Massen die Tragödie überschatten.
Die Umsetzung gelingt Regisseurin Lydia Steier indes gekonnt subtil. In Spuren webt die US-Amerikanerin den vergifteten Geist der Berliner Olympiade 1936 in ihre Inszenierung hinein. Im Stil Leni Riefenstahls steht oberflächlich zur Schau gestellte Athletik und der Triumph im Vordergrund, wo eigentlich nach der Terrortat Resignation überwiegen sollte. Nun möchte man es Schimmelpfennig und Steier gleichtun und auch als Zuschauer das Stück souverän an seiner künstlerischen Qualität bemessen und nicht den Fehler machen, nur die Bedeutung des öffentlichkeitswirksamen Themas anzuerkennen. Schließlich selbstvergewisserten sich deutsche Politiker jüngst des Öfteren damit, dass Israel deutsche Staatsräson sei – vielleicht auch auf der Bühne?
Karnevaleske Musik und andere Entgleisungen
Musikalisch ist das Werk frei gestaltet. Wertmüller löst die traditionellen Grenzen zwischen Ernster Musik und Unterhaltungsmusik auf, was den zwischen Tonalität und Atonalität changierenden Klang gut verdaulich macht. Er bedient sich eines breiten Instrumentariums von traditionellem Orchester bis zu avantgardistischer Jazzband (Gastensemble für die Produktion: Steamboat Switzerland), ergänzt durch Hammond-Orgel, Synthesizer, Glockenspiel und weiteren exotischen Klängen. Grundidee der Partitur ist ein ostinates Grundrauschen, ein Puls im Schlagwerk, der über die gesamte Dauer des Stücks erhalten bleibt und an Dynamik wie Tempo stetig zulegt. Grundsätzlich lässt sich viel entdecken in Wertmüllers „Echo 72“-Partitur, doch der Stilmix zwischen avantgardistischem Musiktheater und Musicalfragmenten, die schiere Lautstärke gegen Ende des Stücks und die elektronische Stimmverstärkung erfordern Geduld und Aufmerksamkeit. Gerade in Anbetracht dieser beeindruckenden inhaltlichen Komplexität des Textes lassen die durchaus virtuosen Gesangspartien mehr lyrische Greifbarkeit, mehr Substanz und schließlich mehr Charakter vermissen. Die wären als Gegengewicht für die stetigen karnevalesken Entgleisungen des Chors sinnstiftend.
Ob in Anbetracht der großen Vielfalt der eingesetzten technischen wie musikalischen Mittel alles reibungslos verlaufen ist – der technische Defekt des Vorhangs nach circa einer Stunde nicht mitbeachtet – ist schwer einzuschätzen. Abgesehen von der Rolle des Polizisten, der als tragikomische Figur im ständigen Falsett- und Bruststimmenwechsel seine Nervosität besingt (souverän: Ziad Nehme), stehen in „Echo 72“ nicht die Solisten, sondern der Chor im Vordergrund, der allen voran glaubhaft die tierische Ignoranz der Massen betont. Schließlich entkernt sich Wertmüllers Musik zunehmend und man steht wieder bei der anfänglichen Frage, ob die Musik für das Thema des Werks angemessen ist. Ein mutiger Schritt in Richtung Oper mit zeitgenössischem historischem Sujet ist allemal gelungen.
Staatsoper Hannover
Wertmüller: Echo 72. Israel in München
Titus Engel (Leitung), Lydia Steier (Regie), Flurin Borg Madsen (Bühne), Andy Besuch (Kostüme), Elana Siberski (Licht), Lorenzo Da Rio (Chor), Sophia Gustorff, Martin Mutschler & Daniel Menne (Dramaturgie), Daniel Eggert, Ketevan Chuntishvili, Ruzana Grigorian, Philipp Kapeller, Beatriz Miranda, Chor der Staatsoper Hannover, Steamboat Switzerland, Niedersächsisches Staatsorchester Hannover
Mi., 29. Januar 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Wertmüller: Echo 72
Daniel Eggert (Ein Trainer), Ketevan Chuntishvili (Eine Leichtathletin), Ruzana Grigorian (Eine schwangere Frau), Philipp Kapeller (Ein Gewichtheber), Beatriz Miranda (Eine Fechterin), Steamboat Switzerland, Titus Engel (Leitung), Lydia Steier (Regie)
So., 02. Februar 2025 18:30 Uhr
Musiktheater
Wertmüller: Echo 72
Daniel Eggert (Ein Trainer), Ketevan Chuntishvili (Eine Leichtathletin), Ruzana Grigorian (Eine schwangere Frau), Philipp Kapeller (Ein Gewichtheber), Beatriz Miranda (Eine Fechterin), Steamboat Switzerland, Titus Engel (Leitung), Lydia Steier (Regie)
Do., 06. Februar 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Wertmüller: Echo 72
Daniel Eggert (Ein Trainer), Ketevan Chuntishvili (Eine Leichtathletin), Ruzana Grigorian (Eine schwangere Frau), Philipp Kapeller (Ein Gewichtheber), Beatriz Miranda (Eine Fechterin), Steamboat Switzerland, Titus Engel (Leitung), Lydia Steier (Regie)
Sa., 22. Februar 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Wertmüller: Echo 72
Daniel Eggert (Ein Trainer), Ketevan Chuntishvili (Eine Leichtathletin), Ruzana Grigorian (Eine schwangere Frau), Philipp Kapeller (Ein Gewichtheber), Beatriz Miranda (Eine Fechterin), Steamboat Switzerland, Titus Engel (Leitung), Lydia Steier (Regie)
Do., 27. Februar 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Wertmüller: Echo 72
Daniel Eggert (Ein Trainer), Ketevan Chuntishvili (Eine Leichtathletin), Ruzana Grigorian (Eine schwangere Frau), Philipp Kapeller (Ein Gewichtheber), Beatriz Miranda (Eine Fechterin), Steamboat Switzerland, Titus Engel (Leitung), Lydia Steier (Regie)