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Opern-Kritik: Staatsoper Hannover – Satyagraha

Musikalisch Erhebendes

(Hannover, 6.9.2024) An der Staatsoper Hannover wird Philip Glass‘ Oper „Satyagraha“ zum spirituellen Oratorium für Publikum und Darstellende.

vonPatrick Erb,

Am Ende des Premierenabends von „Satyagraha“ an der Staatsoper Hannover hebt sich der Vorhang nicht nur für das Ensemble, sondern vor allem für einen: Gandhi-Darsteller Shanul Sharma nimmt, sichtlich bewegt von der Musik und dem Moment, kniend seinen Applaus entgegen. Das Publikum, ebenso tief beeindruckt von der scheinbar einfachen, aber emotional intensiven Musik, feiert begeistert das Gesehene, Gehörte und Durchlebte. „Satyagraha“ ist weniger eine Nacherzählung von Gandhis Leben, sondern vielmehr ein spirituelles Oratorium für dessen Idee des gewaltfreien Widerstands. Es betont die Notwendigkeit, durch Schmerz und Leid auf das Gegenüber zuzugehen und daraus Weisheit zu schöpfen. Die Musik von Philip Glass ist dabei das Mantra, das Medium, diese Botschaft zu übermitteln.

Doch wie lässt sich diese zeitlose Lehre in einer Oper darstellen? In „Satyagraha“ wählt Glass ursprünglich drei Protagonisten der Friedenspolitik ihrer Zeit: Leo Tolstoi, Rabindranath Tagore und Martin Luther King. Inspiriert durch ihr Vorbild entwickelt Gandhi seine Philosophie stetig weiter, jeder Akt widmet sich dabei prägenden Stationen des Protests. Regisseur Daniel Kramer hingegen erlegt dem Szenario durch gewaltige Zeitsprünge kosmische Maßstäbe auf.

Szenenbild zu „Satyagraha“
Szenenbild zu „Satyagraha“

Ein bedeutungswahrendes Regiekonzept

In drei Episoden lässt Kramer den durch Hinduismus inspirierten Gedanken von Tod und Wiedergeburt leitmotivartig sich weiterentwickeln: Zunächst in der Mythischen Zeit, in der Gandhi durch den kriegerischen Gott Arjuna stirbt und sich auf seine Reinkarnation vorbereitet, darauf dann im Jahr 2048, in welchem der Planet Erde zunehmend unbewohnbar ist und Gandhi sich mit den Elenden gegen wenige Reiche solidarisiert. Schließlich sind in der Zukunft, im Jahr 3048, die wenigen Überlebenden auf dem Mond nur noch elende Wesen, auf Medikamente, Pflege und die Hilfe von Gandhis dritter Reinkarnation angewiesen. Ein Epilog widmet sich 65 Millionen Jahre später einer neuen Spezies. Auch sie lernt nicht dazu und äußert sich durch Gewalt. Doch die Seele Gandhis, stetig weitergewandert, befriedet diese, und nach vielen Leben geht sie in das Göttliche ein.

Kramers Regiekonzept findet einen neuartigen und dabei schlüssigen Zugang, ohne die ursprüngliche Bedeutung des Werks zu unterminieren. Die ausgewählten Bilder von sinnlosem Krieg, Egoismus und Ressourcenverschwendung sowie die dystopischen Vorstellungen von Abwanderung auf andere Himmelskörper und schließlich das Entstehen einer neuen Spezies sind – verstärkt durch die Videoleinwand, für deren Impressionen Chris Kondek verantwortlich zeichnet – bissig ironisch, aber keinesfalls lächerlich. So sieht das Publikum auf der Leinwand mal Ruinen zerstörter Städte, mal das Paradies – vor allem aber sieht es das perfide mediale Narkotikum, mit dem die Reichen sich die Arbeitenden gefügig machen: die Bilder einer heilen Natur. Wer würde durch die großen Augen von Bambi und Klopfer nicht gerührt?

Szenenbild zu „Satyagraha“
Szenenbild zu „Satyagraha“

Die Vielfalt der scheinbar einfachen Formen

Von passionsartigem Leid beim Tod, über manische Ektase während der Wiedergeburt und der Manifestation bis zur kriegerischen Feindseligkeit. Die beeindruckende Musik von Glass wirkt trotz vermeintlich einfacher Melodik und Harmonik ausdifferenziert. Kongenial dabei ist, wie gut das Gezeigte mit den musikalischen Formen übereinstimmt. Vor allem die Zeitlosigkeit in Musik und Handlung finden erstaunlich gut zueinander. Doch die erdrückende Leere der stark periodischen Musik will mit Leben gefüllt sein. Masaru Kumakura erweist sich dabei als der richtige. Mit jugendlicher Frische und rhythmischer Disziplin hält der gebürtige Japaner die Musik am Leben, die nur zu leicht in uninspirierte Gefälligkeit gleitet. Mit Leichtigkeit schafft er ein erfrischend akzentreiches Farbenspiel, so dass sowohl er als auch das Niedersächsische Staatsorchester zu Recht bejubelt wurden.

Und entsprechend der inszenatorischen Verlagerung von biographischen Elementen hin zur philosophischen Idee selbst, spielen die Charaktere, selbst Tenor Shanul Sharma als gefeierter Gandhi, nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr tragen alle gemeinsam die in Sanskrit verfassten Botschaften vor, wodurch dem Staatsopernchor auf Augenhöhe mit den übrigen Solisten eine herausragende, einem Marathon gleichende Rolle zukommt, die dieser – zumindest bei der Premiere – mit überwältigender Leidenschaft erfüllte und die Staatsoper Hannover so in einen Aschram des musikalisch Erhebenden verwandelte.

Staatsoper Hannover
Glass: Satyagraha

Masaru Kumakura (Leitung), Daniel Kramer (Regie), Justin Nardella (Bühne), Shalva Nikashvili (Kostüme), Andreas Schmidt (Licht), Chris Kondek (Video), Lorenzo Da Rio (Chor), Sophia Gustorff (Dramaturgie), Shanul Sharma, Meredith Wohlgemuth, Ketevan Chuntishvili, Beatriz Miranda, Markus Suihkonen, Darwin Prakash, Chor und Statisterie der Staatsoper Hannover, Niedersächisches Staatsorchester






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