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Opern-Kritik: Staatsoper Hannover – Greek

Spannungsprall süffiger Sog

(Hannover, 20.6.2021) Mark-Anthony Turnage schafft mit seiner Ödipus-Anverwandlung ungeheuer kraft- und saftvolles, enorm glaubwürdiges Musiktheater in einer dystopischen Welt. Die Umsetzung beschert der Staatsoper Hannover einen Triumph.

vonPeter Krause,

Die Lektüre antiker Mythen im Lichte der Gegenwart hat seit den Schöpfungstagen der Gattung Oper Konjunktur: Sei es das Schicksal des Sängers Orpheus in Renaissance und Barock, seien es germanische Göttersagen beim spätromantischen Wagner oder die blutrünstige Atridentragödie in der expressionistischen „Elektra“ von Richard Strauss. Der 1960 geborene Brite Mark-Anthony Turnage darf alsbald getrost in diese Galerie großer komponierender Ahnen eingereiht werden. Denn seine Oper „Greek“, uraufgeführt anno 1988 auf der Münchener Biennale, ist ein Meisterwerk der Anverwandlung archaischer Konflikte. Ihr liegt ein Text zugrunde, den der Theaterautor Steven Berkoff zu Beginn der 80er Jahre als sehr freie Adaption der Ödipus-Tragödie des Sophokles schuf – vor dem Hintergrund aufflammender sozialer Konflikte auf der britischen Insel, die zu Streiks und Aufständen führten.

Die antike Pest tobt bei ihm nun neu als Plage in den Straßen des Londoner East End. Eddy, ein moderner Ödipus aus der Unterschicht, steht auf, will ausbrechen aus dem Elend, gerät in einen Strudel der Gewalt, tötet unwissentlich seinen Vater, verliebt sich, wiederum unwissentlich, in seine Mutter, hadert mit der Rache im „Greek Style“ – dem grausigen Ausstechen der Augen. In Abwandlung der antiken Vorlage allerdings überwindet Eddy den uralten und immer wieder neuen Fluch und hinterlässt dem erstaunten Publikum seine Vision von Liebe.

Szenenbild aus „Greek“
Szenenbild aus „Greek“

Zwischen Milieu-Studie, Traumsequenzen und Groteske sind die archaischen Motive eingewoben

Wie in schnellen Filmschnitten sind nun kurze Situationen hintereinandergeschaltet, die erschütternde Einblicke in diese dystopische Welt geben. Zwischen Milieu-Studie, Traumsequenzen und Groteske sind die archaischen Motive – und Formen wie jene des kommentierenden griechischen Chores – meisterhaft verwoben. Es entsteht ein spannungspraller Strudel zwischen (gern in derbem Cockney) gesprochenen und gesungenen Passagen und einer Musik, die zwischen Punk und Pop, Hip-Hop und Jazz, ja auch mal Fussballgrölgesängen auf der einen sowie Kunstmusik auf der anderen so selbstverständlich vermittelt, dass man bald nicht mehr merkt, woher Turnage gerade seine Inspiration bezieht.

Sein Amalgam der Stile ergibt ein höhere Kunstwahrheit, die in den über 80 Minuten unmittelbar fesselt, weil sie eben immer auch fasslich und farbig ist und einen süffigen Sog entfaltet, dem sich niemand entziehen kann. Die Erweiterung des klassischen Instrumentariums aus Holz- und Blechbläsern nebst tiefen Streichern um Saxophon, Ratchet oder Trillerpfeife verschafft dem Werk seine Street Credibility, ohne dabei je in gut gemeinten Naturalismus zu verfallen. Revuehafte Momente und Anklänge an Kurt Weill schenken dem Abend bei aller Brutalität stets auch die nötige Brecht-Distanz mit Verfremdungsgarantie. Es entsteht ein ungeheuer kraft- und saftvolles, enorm glaubwürdiges Musiktheater.

Szenenbild aus „Greek“
Szenenbild aus „Greek“

Körperbetont kraftvolle Inszenierung

Die Inszenierung von Joe Hill-Gibbins trägt dem mit ihrer körperbetont kraftvollen Sprache auf ideale Weise Rechnung. Hier wird nicht pseudorealistisch eine Story bedient, sondern im Sinne eines Brecht-Lehrstücks direkt das Publikum adressiert, angesprochen, angesungen. Das ist virtuos und maximal konzis gearbeitet, die Live-Videos ergänzen manch blutiges Detail, das in der Interaktion der vier grandiosen Sängerdarsteller verzichtbar ist. Der furios zwischen Sprechen, Schreien und Singen changierende britische Bariton James Newby erweckt als ödipaler Eddy im Trainingsanzug alle Sympathien des auf die Katharsis hoffenden Publikums. Die drei weiteren Sänger wechseln fantastisch fix ihre Kostüme, um in episodischer Zuspitzung in ganz verschiedene Figuren zu schlüpfen. Mezzo Iris van Wijnen, Bariton Michael Kupfer-Radecky und Sopranistin Ángeles Blancas machen das gleichermaßen fulminant. GMD Stephan Zilias führt das Niedersächsische Staatsorchester Hannover hoch konzentriert und animiert durch die multiplen Taktwechsel und Stile der Partitur. Dieser Trip in eine andere Welt – eine bei aller mythischen Grundkonstellation beklemmend gegenwärtige – hat etwas Rauschhaftes und zeigt eindrucksvoll, was Musiktheater heute kann. Ein Triumph für die Staatsoper Hannover!

Staatsoper Hannover
Turnage: Greek

Stephan Zilias (Leitung), Joe Hill-Gibbins (Regie), Johanna Meyer (Bühne), Alex Lowde (Kostüme), James Newby, Iris van Wijnen, Michael Kupfer-Radecky, Angeles Blancas, Niedersächsisches Staatsorchester Hannover

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