In einem seiner wichtigsten Sätze gab sich der sonst stets wortmächtige wie natürlich bibelfeste Pastorensohn Friedrich Nietzsche gleich dreifach einsilbig: „Gott ist tot.“ Damit bewies er nicht nur philosophisch trickreich über den Umweg der Affirmation durch Negation, dass Gott einst quicklebendig gewesen sein muss. Er führte auch das Weltbild der Moderne ein, das fortan ohne die gnadenreiche Gewissheit eines allmächtigen gütigen Gottes auskommen muss. Wer heute noch religiös ist, der zweifelt auch. Der Rest hat die Anwesenheit und Wirksamkeit einer höheren Instanz ohnehin längst aufgegeben.
Für christlich konnotierte Großschöpfungen des Musiktheaters wie Richard Wagners „Parsifal“ oder Bohuslav Martinůs „The Greek Passion“, wie sie in der vergangenen und der aktuellen Saison der Staatsoper Hannover zu sehen sind, verschiebt sich damit der Fokus unserer Rezeption – und führt vom eindeutigen Bezug „nach oben“ mitten hinein ins Leben: Denn ethische Fragen der Humanität, der Nächsten-, einschließlich der Feindesliebe bleiben ja bestehen.
Christentum bedeudet Entscheidung
Wusste der Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer in Deutschlands dunkelster Zeit: „Christentum bedeutet Entscheidung“, so kommen wir auch nach dem Tod Gottes ja eben darum nicht herum: Entscheidung und Haltung sind mehr denn je gefragt, nicht nur in Sonntagsreden, sondern durchaus auch ganz praktisch. Davon erzählt „The Greek Passion“ extrem eindringlich, ja bestürzend. Denn die hier aufgeworfenen Fragen tun weh: Wie halten wir es mit dem Widerstand gegen Unrecht? Reichen Lippenbekenntnisse? Oder darf Gewalt zu Gegengewalt führen?

Der tschechische Komponist Bohuslav Martinů schrieb „The Greek Passion“ vor dem Hintergrund eigener persönlicher Erfahrungen von Migration und Vertreibung. Nach zehn Jahren im US-amerikanischen Exil kehrte er 1953 nach Europa zurück. 1959 verstarb er in der Schweiz. Den tragischen Stoff für seine letzte Oper fand er bei dem griechischen Friedensaktivisten Nikos Kazantzakis, dem Autor von „Alexis Sorbas“.
Ein griechisches Oberammergau
Im englischen Libretto, das der Komponist für die geplante, aber nicht realisierte Uraufführung am Royal Opera House Covent Garden selbst verfasste, führt er uns in ein griechisches Dorf zu Beginn der 1920er Jahre. An deren Einwohner verteilt der orthodoxe Priester Grigoris zu Beginn die Rollen für das anstehende Passionsspiel, also gleichsam ein griechisches Oberammergau. Die Charaktere von Jesus Christus, Maria Magdalena und den Jüngern werden für die Beteiligten bald zur neuen Realität und unterziehen sie einer schmerzhaften Prüfung. Sie müssen sich fragen: Wer bin ich? Wer kann ich werden? Was braucht es, um ein guter Mensch zu sein? Denn es erscheint eine Gruppe von Geflüchteten, ihrerseits Griechen, ihrerseits Christen, die verzweifelt und hungrig um Hilfe bittet. Ihr Dorf wurde dem Erdboden gleichgemacht.
Da wird nun eine ausgelassen feiernde, zufriedene, eingeschworene Gemeinschaft, voller ausgeprägter, auch schrulliger Typen, die gern das Bier „Mythos“ genießt, mit „den anderen“ konfrontiert. Die sind eigentlich gar nicht so anders, aber sie formulieren die Erwartung des Teilens. Wie der barmherzige Samariter ist das Dorf dazu zunächst bereit. Kleidung und Schuhe lassen sich ablegen, wir haben ja alle mindestens noch ein zweites Paar. Doch „die anderen“, die sich mit den Dorfbewohnern in zwei Chorgruppen gegenüberstehen, werden eben auch als bedrohlich aufgefasst. Abgrenzung, Ausgrenzung entstehen.

Manolios, der Parsifal-Christus
Da wird nun der junge Schafhirte Manolios zu einem sich wie der reine Thor Parsifal verwandelnden Protagonisten. Immer mehr überzeugt von und identifiziert mit seiner Rolle als Jesus Christus wird er zum Anwalt der anderen. Seine Empathie ist mehr als Bekenntnis. Sie wird zur Tat. Er verteilt Wasser an die Durstigen.
Er erlebt den Zwiespalt zwischen Eros (zur Darstellerin der Maria Magdalena, der Eliza Boom ihren herrlich hell aufblühenden Sopran leiht) und Ethik, also seiner eindeutig angenommenen Aufgabe der Hingabe an die Fremden. Am Ende wird er zum Märtyrer. Die eigene Dorfgemeinschaft bringt ihn um.
Zwischen Realismus und Magie
Szenisch ist eine Umsetzung fürwahr nicht ohne Fallstricke des Folkloristischen, des allzu Eindeutigen, das märchenschlicht in Gut und Böse scheiden würde, vielleicht gar des Bibelkitschigen. Barbora Horáková jedoch gelingt eine unfasslich bildstarke Übersetzung des Geschehens zwischen Realismus und Magie. Da wird der Esel, mit dem Jesus einst nach Jerusalem einzog, zum Drahtesel, dem einfach eine Pappe mit dem Kopf des gern widerwilligen Tiers auf den Lenker gebastelt wird. Die beiden Chorgruppen weitet sie vom plumpen Kollektiv zu einer penibel ausgearbeiteten Ansammlung von Individuen, die in jeweils zu ihnen passenden Alltagsklamotten (Kostüme: Eva-Maria van Acker) auftreten.

Die Mauer der variablen Drehbühne, die Susanne Gschwender ersonnen hat, scheidet die Welt wiederum nicht schlicht in ein Hier (das ist unser Dorf) und ein Drüben (da müsst Ihr bleiben), sondern gleicht einem Irrgarten oder Labyrinth, das für die Relativität solcher Zuschreibungen steht. Gegenwart, Mythos und Bibelwahrheit verbinden sich kongenial und hoch assoziativ, wenn das mögliche, nun zu bauende Dorf der Ankömmlinge auch als utopisches Neues Jerusalem zu erkennen ist.
Möglichkeitsmomente in der Intimität der Zweisamkeit
Hoch sensibel baut die tschechische Regisseurin die Duette des Werks, in deren Intimität der Zweisamkeit sich wiederum jene Möglichkeitsmomente zeigen, die im gesellschaftlichen Entwurf scheitern. Zum psychologischen Feingefühl gesellt sich die soziologische Klugheit: Denn Pfarrer Grigoris (bassgewaltig: Shavleg Armasi) ist eben nicht nur jener den Jesus-Darsteller Monolios (seinen biegsamen Tenor vom lyrischen Lamm der Unschuld zum aufbegehrenden Helden der Gerechtigkeit anwachsen lassend) exkommunizierende Bad Guy. Und Monolios-Jesus ist seinerseits mehr als der ach so gutmenschelnde Erlöser, sondern gefällt sich in seiner Rolle am Ende auch sichtlich selbstverzückt und allzu selig lächelnd wie ein Lohengrin, der aus Glanz und Wonne kommend doch nur ein verdammt düsteres Ende verantwortet.
An der Staatsoper Hannover gelingt somit zum Ende der Intendanz von Laura Berman eine exemplarische Exegese des in jeder Hinsicht anspruchsvollen Werks, mit dem das Team beweist, das man es Hier und Heute spielen muss – und sehen muss. So enorm politisch der Stoff auch ist, er wird als hoch sinnliches, zum Nachdenken anregendes Musiktheater auf die Bühne gebracht. Ja, an diesem Abend erweist sich die Staatsoper Hannover als eines der relevantesten Häuser der Republik.

Exzellentes Ensemble
Dafür steht auch das exzellente Ensemble von sängerischen Darstellern, in das neben den Solistinnen und Solisten ausdrücklich Chor, Extrachor und Kinderchor eingeschlossen sind. Da will wirklich jede und jeder die Premiere zum Erfolg machen, was grandios gelingt. Daran hat natürlich auch das Niedersächsische Staatsorchester Hannover seinen gewaltigen Anteil, das die multiplen Anforderungen lustvoll meistert.
Der Volkston der Partitur in den hymnischen Chören, die Inseln der berührenden Begegnungen, in den sich Holzbläserfarben in den Gesang einmischen, und der große, lange Spannungsbögen aufwölbende symphonische Sog gehen wie selbstverständlich auseinander hervor. GMD Stephan Zilias hat hier eine seiner besten Einstudierungen der letzten Jahre vorgelegt, da wird man neugierig auf seine Lesart von „Der Rosenkavalier“, die im Mai zu erleben sein wird. Bohuslav Martinů erweist sich in manchen Momenten dieses sehr großen Musiktheaterabends in der Tat als ein tschechischer Bruder des Bayern Richard Strauss.
Staatsoper Hannover
Martinů: The Greek Passion
Stephan Zilias (Leitung), Barbora Horáková (Regie), Susanne Gschwender (Bühne), Eva-Maria van Acker (Kostüme), Andrea Tortosa Vidal (Choreografie), Sascha Zauner (Licht), Sarah Derendinger (Video), Lorenzo Da Rio (Chor), Tatiana Bergh (Kinderchor), Sophia Gustorff & Martin Mutschler (Dramaturgie), Christopher Sokolowski, Eliza Boom, Shavleg Armasi, Marcell Bakonyi, Marco Lee, Pawel Brozek, Darwin Prakash, Fabio Dorizzi, Ketevan Chuntishvili, Philipp Kapeller, August Zirner, Frank Schneiders, Stephen Owen, Daniel Eggert, Peter O’Reilly, John Pickering, Luisa Mordel, Melanie Xu, Jongsoo Ko, Giorgi Darbaidze, Rosario Guerra, Matthea Lára Pedersen, Andrea Tortosa Vidal, Chor der Staatsoper Hannover, Extrachor der Staatsoper Hannover, Kinderchor der Staatsoper Hannover, Niedersächsisches Staatsorchester Hannover
Di., 22. April 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Martinů: The Greek Passion
Shavlag Armasi (Priester Grigoris), Daniel Eggert (Patriarcheas), Frank Schneiders (Hauptmann), John Pickering (Lehrer), August Zirner (Ladas & Kommentator), Stephan Zilias (Leitung), Barbora Horáková (Regie)
Fr., 25. April 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Martinů: The Greek Passion
Shavlag Armasi (Priester Grigoris), Daniel Eggert (Patriarcheas), Frank Schneiders (Hauptmann), John Pickering (Lehrer), August Zirner (Ladas & Kommentator), Stephan Zilias (Leitung), Barbora Horáková (Regie)
Sa., 03. Mai 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Martinů: The Greek Passion
Shavlag Armasi (Priester Grigoris), Daniel Eggert (Patriarcheas), Frank Schneiders (Hauptmann), John Pickering (Lehrer), August Zirner (Ladas & Kommentator), Stephan Zilias (Leitung), Barbora Horáková (Regie)
Do., 08. Mai 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Martinů: The Greek Passion
Shavlag Armasi (Priester Grigoris), Daniel Eggert (Patriarcheas), Frank Schneiders (Hauptmann), John Pickering (Lehrer), August Zirner (Ladas & Kommentator), Stephan Zilias (Leitung), Barbora Horáková (Regie)
So., 11. Mai 2025 18:30 Uhr
Musiktheater
Martinů: The Greek Passion
Shavlag Armasi (Priester Grigoris), Daniel Eggert (Patriarcheas), Frank Schneiders (Hauptmann), John Pickering (Lehrer), August Zirner (Ladas & Kommentator), Stephan Zilias (Leitung), Barbora Horáková (Regie)