Eine stählerne Schraube bohrt sich in den Verstand. Drehung für Drehung dringt sie tiefer ins Bewusstsein hinein, zieht immer fester, verursacht Schmerz, Chaos und Wahnsinn. In Benjamin Brittens Kammeroper „The Turn of the Screw“ dreht sich alles um die geistige Zurechnungsfähigkeit – und die dreht sich gleich mit. Der gut zweistündige Zweiakter ist wahrlich nichts für zart besaitete Gemüter, sondern ein klaustrophobischer Psychokrimi, in dem es keine rationalen Grenzen gibt.
Schwarz und Weiß – Wahrheit und Scheinwelt
Man könnte meinen, es sei ein Videofilter, der den aufgezeichneten Stream der Staatsoper Hannover im Stil eines alten Schwarzweißfilms à la Edgar Wallace erscheinen lässt. Doch es sind Beleuchtung (Susanne Reinhardt), Kostüme (Fabian Posca) und Kulissen (Thilo Ullrich), die dem Bühnengeschehen seine Farblichkeit entziehen und damit dem ganzen von vornherein eine bedrückende Dichotomie verpassen: Schwarz und weiß, Licht und Schatten, Wahrheit und Scheinwelt – die zentralen Motive der herrschenden geistigen Zerrissenheit.
1954 wurde Brittens musikalischer Thriller „The Turn of the Screw“ im Teatro La Fenice in Venedig uraufgeführt. Literarische Vorlage für das Libretto von Myfanwy Piper war die gleichnamige, 1898 erschienene Novelle von Henry James, die schon ihrerzeit als „hoffnugsloseste, böseste“ Schauergeschichte der Literatur gewertet wurde – die englische Genrebezeichnung der „Gothic novel“ wird in diesem Fall übrigens wörtlich genommen: Fabian Poscas Kostüme behalten zwar den viktorianischen Stil der Vorlage, werden jedoch in den moderneren Kontext der Gothic-Szene gesetzt.
Ins Chaos gestürzt
Brittens Oper übernimmt die Handlung der Novelle in einer schlaglichtartigen Szenenverkettung: Eine junge Gouvernante wird beauftragt, zwei Waisenkinder in einem abgelegenen Landhaus zu betreuen. Doch schon kurz nach ihrer Ankunft wird klar: An diesem Ort stimmt etwas nicht. Die Kinder benehmen sich merkwürdig, die Vergangenheit wird verschwiegen, immer wieder sieht sie fremde, unheimliche Gestalten im Haus. Für die aufgewühlte Erzieherin zeichnet sich mehr und mehr der Verdacht ab, dass die Kinder von den Geistern der früheren Bediensteten besessen sind – einem Liebespaar, das dort auf mysteriöse Weise gestorben ist. Entschlossen versucht sie die Unschuld der Kinder zu retten und gegen die Geister anzukämpfen, doch stürzt sie damit sich und alles um sich herum ins Chaos.
Klassische Horrorfilmszenarien
Immo Karaman hat bereits Erfahrung mit Britten-Opern. „The Turn of the Screw“ hatte der Regisseur schon in Leipzig (2007) und an der Deutschen Oper am Rhein (2012) inszeniert. Durch die Aneinanderreihung eines Prologs und insgesamt sechzehn motivisch wechselhaften Szenen legt die Oper eine filmisch angelegte Interpretation durchaus nahe. Wie schon in den früheren lässt Karaman auch in dieser Inszenierung keine Hitchcock-Anspielung vermissen, sei es das typische Spiel mit Licht und Schatten, ein bedrohlicher Schwarm projizierter Vögel, die aus einer Schachtel flattern oder das beliebte Motiv einer Frauensilhouette hinterm Duschvorhang – zu der die schwarzweiß gehaltene Farbgebung ihr übriges tut.
Darüber hinaus bedient sich Karaman weiterer Horrorfilmszenarien mit teils klischeehaftem Charakter, die aber trotzdem ihre Gruselwirkung zeigen: Vom klassischen Gespenst unterm Laken, über die kriechende schwarzhaarige Geisterfrau mit dem verschleierten Albinogesicht, bis hin zum dem Jungen Miles, der kreideweiß geschminkt, mit akkurat angeklatschter Frisur, Kindersmoking und steifem Benehmen eins zu eins der Puppe gleicht, die die überforderte, paranoide Gouvernante im Gepäck hat. Wer in dem Genre zu Hause ist, wird hier um Assoziationen auch zu modernen Horrorfilmen wie „Dead Silence“ (2007), „Annabelle“ (2014) oder „The Boy“ (2016) – in dem die Gruselpuppe bezeichnenderweise „Brahms“ heißt – nicht herumkommen.
Alles Greifbare wird zunichte gemacht
Das zunächst zusammenhangslos erscheinende Geflecht von einzelnen Szenenbildern wird von der genial konstruierten Schauermusik Brittens zusammengehalten. Schon 14 Musikerinnen und Musiker des Niedersächsischen Staatsorchesters Hannover unter der Leitung von Stephan Zilias reichen aus, um dem Wahnsinn musikalischen Ausdruck zu verleihen. Das schizophren anmutende Schrauben-Motiv, dass sich dabei in unterschiedlichsten Variationen zwischen die Szenen spinnt, gerät durch farblich kontrastierende Instrumentierung und gegenläufiges Spiel mit den Tonarten zusammen mit dem Bühnengeschehen in einen ekstatischen Strudel. Ermöglicht werden die schnellen, vermeintlich willkürlichen Szenenwechsel auch durch das Bühnenbild von Thilo Ullrich, das neben einigen fragmentartigen Kulissen von wandelbaren Projektionen und Schleierfahrten lebt, womit sogar auch im Bühnenbild alles Greifbare zunichte gemacht wird.
Puppenhafte Knaben und bibbernde Erlkönige
Eine gesangliche Besonderheit bietet die Rolle des heimgesuchten Kindes Miles, die nach Britten ausdrücklich durch einen Knaben vor dem Stimmbruch zu besetzen ist. Jakob Geppert, Solist des Knabenchores der Chorakademie Dortmund, verleiht dem puppenhaften, emotional erkalteten Miles eine erschreckende Authentizität und meistert den enorm anspruchsvollen Gesangspart mit Bravour. Miles‘ genauso heimgesuchte Schwester Flora wird als vernachlässigter Teenie von Weronika Rabek glaubwürdig in Szene gesetzt. Düster glänzen vermag auch Sopranistin Sarah Brady in der Hauptrolle als Gouvernante, die die allmähliche Entwicklung des inneren Wahnsinns spürbar macht und schauspielerisch wie auch gesanglich eine äußerst umfangreiche emotionale Spannweite abdeckt.
Mezzosopranistin Monika Walerowicz überzeugt als Mrs. Grose, Haushälterin und wahre Meisterin im Verdrängen. Für einen echten Gänsehautfaktor sorgt der bibbernd vibratöse, zugleich verführerische und angsteinflößende Tenor von Sunnyboy Dladla, der als Geist von Diener Peter Quint, meist nur als bedrohlicher Schatten seiner selbst, dafür aber umso effektvoller in Erscheinung tritt – ein wahrer Erlkönig. Ihm solide zur Seite steht Sopranistin Barno Ismatullaeva als Geist von Miss Jessel. Den Eingangsprolog singt Erzähler Marco Lee.
Der psychologische Ansatz
Bezeichnend für Brittens „The Turn of the Screw“ ist unter anderem das offen gelassene Ende: Die Entscheidung, ob es wirklich eine Geistergeschichte ist, oder ob die Gouvernante sich die gespenstischen Erscheinungen im Haus nur eingebildet hat, bleibt jedem selbst überlassen. Regisseur Karaman beruft sich jedoch mit zunächst subtilen, dann immer dominanter werdenden Mitteln auf die letztere Variante, den psychologischen Ansatz. Zum großen, dramatischen Finale geht er sogar einen Schritt weiter und gibt Anlass zum Zweifel, ob überhaupt irgendetwas von dem Geschehen stattgefunden hat, oder ob die Gouvernante letzten Endes – das platte Wortspiel sei an dieser Stelle verziehen – nur eine Schraube locker hat.
Gänsehaut-Musik
Vor allem für Freunde des Grusel-Genres ist die Inszenierung durchaus empfehlenswert, wenngleich die endlose Farblosigkeit im Gothik-Gewand auf Dauer eine gewisse Anstrengung bzw. wohl beabsichtigte Trostlosigkeit für die Augen mit sich bringt; der ein oder andere Farbtupfer hätte hie und da nicht geschadet. Doch vor allem in den unheimlichen Passagen überzeugt der Abend durch starke Effekte, großartige Sänger und durchdringende Gänsehaut-Musik.
Weitere Online-Vorstellungen am 28. April und 15. Mai 2021.
Staatsoper Hannover
Britten: The Turn of the Screw
Stephan Zillas (Leitung), Immo Karaman (Regie), Thilo Ullrich (Bühne), Fabian Posca (Kostüme), Susanne Reinhardt (Licht), Philipp Contag-Lada (Video), Regine Palmai (Dramaturgie), Marco Lee (Prolog), Sarah Brady (Die Gouvernante), Jakob Geppert (Miles), Weronika Rabek (Flora), Monika Walerowicz (Mrs. Grose), Sunnyboy Dladla (Quint), Barno Ismatullaeva (Miss Jessel), Niedersächsisches Staatsorchester Hannover