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Opern-Kritik: Staatsoper Unter den Linden Berlin – Il Giustino

Im Schicksalsrad zwischen Barock und Gegenwart

(Berlin, 20.11.2022) Augenzwinkernd verbindet Regisseurin Barbora Horáková für Vivaldis Musikdrama Versatzstücke und Stilmittel aus unterschiedlichen Epochen, Kunst und Kitsch. René Jacobs eröffnet diesjährigen Barocktage an der Berliner Staatsoper mit der Akademie für Alte Musik Berlin.

vonKirsten Liese,

Virtuose Koloraturen, anrührende lyrische Melodien und majestätische Fanfaren: Auf den ersten Eindruck könnte die Musik auch aus der Feder von Händel, Vinci oder Porpora stammen. Hört man aber genauer hin, offenbart sich die unverkennbare Handschrift Vivaldis mit Tonrepetitionen über mehrere Takte auf einer Harmonie und Anklänge an seine „Vier Jahreszeiten“. In einer bedeutsamen Szene zitiert der Komponist selbst über viele Takte den „Frühling“ aus seinem damals schon sehr beliebten Zyklus, weitere kürzere Zitate als kleine Improvisationen hat René Jacobs in seiner Einstudierung mit der Akademie für Alte Musik Berlin in die Partitur eingestreut.

Szenenbild aus „Il Giustino“ an der Staatsoper Unter den Linden
Szenenbild aus „Il Giustino“ an der Staatsoper Unter den Linden

Die farbenreiche, reizvolle Instrumentation sucht ihresgleichen.

Vivaldis „Il Giustino“, mit dem der mittlerweile 76-Jährige die diesjährigen Barocktage an der Berliner Staatsoper eröffnete, ist ein in vieler Hinsicht außergewöhnliches Werk. Zwar wurde derselbe Stoff schon vor Vivaldi mehrfach von anderen Komponisten und 1737 in modifizierter Form auch noch einmal von Händel aufgegriffen. Aber die farbenreiche, reizvolle Instrumentation sucht ihresgleichen. Insbesondere das Psalterium – auch Hackbrett genannt –, das Vivaldi als Solinstrument in einer Arie einsetzt, sei ganz und gar untypisch für das 17. und 18. Jahrhundert, sagt René Jacobs. Vivaldi nutzt es als sakrales Symbol für den Himmel.

Szenenbild aus „Il Giustino“ an der Staatsoper Unter den Linden
Szenenbild aus „Il Giustino“ an der Staatsoper Unter den Linden

Ein überraschend heutiges Genderverständnis des Barock

Bei alledem überrascht Vivaldis Musikdrama mit einem sehr heutig anmutenden Genderverständnis. Eigentlich geht die Geschichte, zu der Antonio Maria Lucchini für Vivaldi nach Nicolò Beregan und Pietro Pariati das Libretto schrieb, ins byzantinische Kaiserreich um 553 zurück: Der einfache Bauer Giustino rettet das Kaiserehepaar Anastasio und Arianna vor allerhand Ungeheuern, Feinden und Intriganten und wird schließlich selbst zu einem Regenten. Mit seinem Heldenmut tritt Giustino freilich zunächst als ein viriler Protagonist in Erscheinung, als ein Unerschrockener, der wie Wagners Siegfried wütende Bestien besiegt. Die Musik aber spiegelt keineswegs nur seine Manneskraft wider, zeichnet vielmehr nach, wie sich der Ackermann im Laufe der Handlung zu einem sensitiven Liebenden entwickelt, der – nachdem sich die Schwester des Kaisers in ihn verliebt und der machtgierige Amanzio erfolgreich gegen ihn intrigiert hat – beklagt, angesichts von Leid und Schmerzen seine Tränen nicht mehr zurückhalten zu können. Christophe Dumaux singt diese Arie mit seinem schlanken, luziden, schönen Countertenor berührend leise und zärtlich, erweist sich überhaupt mit seinem in allen Registern agilen Countertenor als perfekte Besetzung für die Titelpartie.

Szenenbild aus „Il Giustino“ an der Staatsoper Unter den Linden
Szenenbild aus „Il Giustino“ an der Staatsoper Unter den Linden

Besonders starke Frauenfiguren

Vor allem aber die Frauen treten in dem Musikdrama als starke Persönlichkeiten auf, was allein schon bemerkenswert erscheint, weil sie zur Uraufführung 1724 in der Papststadt Rom nicht auftreten durften, so dass damals alle Partien von Männern gesungen wurden. Allen voran erscheint Kaiserin Arianna mit ihrer Standhaftigkeit gegen alle lebensbedrohlichen Attacken und ihrer unerschütterlichen Liebe zu ihrem Gatten als eine mutige, tapfere Frau. Trefflicher als Kateryna Kasper könnte eine Sängerin diese Partie nicht meistern, glockenhell, warm und schön tönt ihr Sopran, schimmert noch silbern in den höchsten Spitzen. Ihr steht die Amerikanerin Robin Johanssen in Nichts nach, sie ist als des Kaisers Schwester Leocasta die zweite in ihrer unerschütterlichen Liebe starke Frau.

Szenenbild aus „Il Giustino“ an der Staatsoper Unter den Linden
Szenenbild aus „Il Giustino“ an der Staatsoper Unter den Linden

Die schwachen Seiten der Männer

Der leicht zu verunsichernde Kaiser, den Raffaele Po mit seinem lichten, agilen Countertenor zu seiner Paraderolle macht, steht dagegen auf der Seite der Schwachen. Kaum erreicht ihn die falsche Behauptung, seine Frau betrüge ihn mit Giustino, nährt das seine Zweifel an ihrer Treue. Der nicht weniger schwache Andronico, Bruder des gefürchteten Tyrannen Vitaliano, verkleidet sich als Frau, um seiner Angebeteten Leocasta näher zu kommen, und versagt jämmerlich, als sie seine wahre Identität entdeckt. Helena Rasker, mit ihrem dunklen Alt die tiefste Stimme im Ensemble, gelingt in dieser Hosenrolle dank ihrer androgynen Erscheinung eine imponierende doppelte Travestie. Als Vitaliano beweist der südafrikanische Tenor Siyabonga Maqungo aus dem festen Ensemble der Staatsoper nach erfolgreichen Rollenporträts als David in den „Die Meistersinger von Nürnberg“ und Froh in „Das Rheingold“ des jüngsten Thielemann-„Rings“ seine Vielseitigkeit.

Szenenbild aus „Il Giustino“ an der Staatsoper Unter den Linden
Szenenbild aus „Il Giustino“ an der Staatsoper Unter den Linden

Die fantasievolle, kluge Inszenierung entfacht verdiente Beifallsstürme.

Überhaupt wird rundum aufs Vorzüglichste gesungen und musiziert in dieser Produktion, die auch seitens der fantasievollen, klugen Inszenierung verdiente Beifallsstürme entfachte. Thilo Ullrichs Bühne dominiert ein Schicksalsrad, das sich dreht, wenn Entscheidendes geschieht. Augenzwinkernd verbindet Barbora Horáková Versatzstücke und Stilmittel aus unterschiedlichen Epochen, Kunst und Kitsch. Giustinos Kämpfe mit einem Ungeheuer zeigt sie als raffiniertes Schattenspiel, akustisch untermauert von monströsen Lauten wie aus einem Horrorfilm. Andere Szenen gestaltet die Regisseurin mit bestechender Schlichtheit, wofür es kaum mehr braucht als ein wenig Pantomime und knappe Inschriften zur imaginären Einordnung der Orte des Geschehens. Mitunter kommen aber auch eindrucksvoll Elemente des barocken Kulissentheaters zum Einsatz, wogende Wellen und Berge sowie Putten und Götter, die vom Bühnenhimmel auf Wolken herabschweben, von wo aus sie ihre Liebespfeile abfeuern oder Konflikte mit Zauberhand in Nichts auflösen. Und dank Kostümen (Eva-Maria Van Acker), die Altertum, Barock und Gegenwart geschickt miteinander kombinieren, versammeln sich auf der Bühne Gestalten, die beides in einem sind: schräge Kunstfiguren und zeitlos heutige Menschen. Allein eine Horde lärmender Schulkinder eröffnet und beendet unvermittelt als überflüssiger Fremdkörper das Geschehen. Aber das trübt den hervorragenden Gesamteindruck kaum.

Staatsoper Unter den Linden Berlin
Vivaldi: Il Giustino

René Jacobs (Leitung), Barbora Horáková (Regie), Thilo Ullrich (Bühne), Eva-Maria Van Acker (Kostüme), Sascha Zauner (Licht), Raffaele Pe, Kateryna Kasper, Christophe Dumaux, Robin Johannsen, Siyabonga Maqungo, Helena Rasker, Olivia Vermeulen, Magnus Dietrich, Staatsopernchor, Akademie für Alte Musik Berlin

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