Die Zeit vereist, die Gefühle auch, letztlich sogar der Vorrat der visuell und literarisch im Textbuch von Händl Klaus reichlich gestreuten kulturellen Zeichen. Musik und Licht kommen zur Uraufführung des sechsten Musiktheaterwerks von Beat Furrer, des Ernst von Siemens Musikpreisträgers 2018, in der Staatsoper Berlin zu beeindruckenden Wirkungen. Aber ehrliches Interesse für die orientierungslos herumirrenden Figuren dieser Auftragskomposition fällt schwer.
In der über achtjährigen Entstehungszeit von Vladimir Sorokins Erstfassung des Librettos für „Violetter Schnee“ in russischer Sprache bis zur Vollendung der Partitur nährte sich das Sujet von einem prognostizierten Wandel der westlichen Welt. Aber bei der Annäherung an diese bildungssatte Geistesspielerei bleibt das Herz so kalt wie der „Violette Schnee“ im Titel. Deshalb enthält der Applaus nach der Uraufführung zwar respektvolle Anerkennung für den 1954 in Schaffhausen geborenen Komponisten, wirkt aber in Vergleich zu wahrhaft erfühltem Enthusiasmus steril.
Ein bewegtes Bild statt einer Wand
Eine Mitwirkende von Endzeitfilmen wie „Die Wand“ und „Elementarteilchen“ ist der vertraute Fremdkörper in dieser Apokalypse ohne Begründung. Martina Gedeck als Über-Figur Tanja erläutert im langen Prolog Peter Bruegels Bild „Die Jäger im Schnee“ (1565), anhand dessen in Beat Furrers neuer Oper das Unerklärbare Gestalt gewinnen soll. In der Idylle der von Bruegel dargestellten Wintervergnügungen ist bei genauer Betrachtung nichts, wie es sein sollte. Es kündigen sich Verstörungen, Missverständnisse und Verfehlungen an.
Das Unerklärbare gewinnt Heiligkeit
Étienne Pluss und der Regisseur Claus Guth versetzen den Beginn von „Violetter Schnee“ in das Kunsthistorische Museum Wien, dem heutigen Ausstellungsort des Gemäldes. Später geistern die Figuren von der Leinwand in den Raum, wo es äußerst dekorativ nebelt und Fadenwolken vorüberziehen. Das Unerklärbare gewinnt so Heiligkeit. Sogar der Wandel mit dem möglicherweise bitterbösem Finale einer ganzen Zivilisation wird also zur äußerst exklusiven Anmaßung. Denn an diesem Abend ist alles von hyperästhetischer Erlesenheit, auch die im Dunkel noch wirkungsvollen Kostüme von Ursula Kudrna mit reizvollem Boutiquen-Chic.
Das fast zur Edelstatisterie zweckentfremdete Vocalconsort Berlin raunt ersterbende Befindlichkeiten nach lateinischen Texten aus Lukrez‘ von der Moderne längst für hinfällig erachteten Schrift „Über die Natur“ in den Raum. Hier betrifft der Wandel aber nur solvente Eliten, die ihren kulturellen wie sozialen Wurzeln entfremdet sind wie sich selbst.
Eiszeit
Beat Furrer zeichnet dieses Entfremden, Vereisen, Veröden und Vegetieren mit einer Verweigerung von melodischen Strukturen. Einige gläserne Akkorde geben harmonische Anhaltspunkte. Doch gehört diese Partitur vor allem phänomenal abgestuften Schlagwerk-Wirkungen, bei denen Streicher und Vokalstimmen assistierende Hilfe leisten. Nur die Musik spielt den Figuren jene Spannung zu, die sie im Stammeln und den Dialogfetzen aus der Libretto-Übersetzung von Dorothea Trottenberg nicht eigenmächtig gewinnen können. Unklar ist, wie gefährlich oder innovativ sich die Rückkehr der Sonne gestalten wird, die in dieser Inszenierung den Schnee nicht wie angekündigt färbt, sondern bis zum Ende silbern blinken lässt.
Die Bühnentechnik der Staatsoper legt mit feinsten Abstufungen vom Flockentreiben bis zu Graupelschauern eine eigene Partitur von Verwehungen über die Szene mit einer Beat Furrers Musik ebenbürtigen Feingliedrigkeit. Matthias Pintscher meistert diesen ästhetischen Exhibitionismus mit der Staatskapelle Berlin bewundernswert. Violett ist nur der Rahmen aus Neonröhren um dieses Bild eines Bildes eines Bildes…
Debussys Rätselwesen Mélisande im Quadrat
Auffallend wie die sich entmaterialisierenden Körperlichkeiten in etwas binden, was faktisch nicht mehr vorhanden sein soll. Elsa Dreisig (Natascha) und Anna Prohaska (Silvia) harmonieren als naive, zivilisationsmüde Sphärensoprane berückend noch in der eigentlich so lebenshungrigen Depression. Neben den schon fast knabenhaft geführten lyrischen Baritonen Georg Nigl (Peter) und Gyula Orendt (Jan) scheinen alle anderen menschlichen Vokalfarben von Furrer ausradiert: Sogar Jacques, der Part für den vitalen Otto Katzameier, ist weniger Kraftfutter als weichgespült. Diese Gruppe – daran ändern weder die Lust der Figuren an Alkohol noch ihre sinnentleerten erotischen Eskapaden etwas – ist so etwas wie Debussys Rätselwesen Mélisande im Quadrat.
Violetter Schnee: Erinnerung an die Apokalypsen der letzten Jahrzehnte
Den menschlichen Stimmen in nur zwei Lagen fehlt letztlich auch die emotionale und persönliche Schwingungsweite einer bewegten Existenz. Claus Guth lässt sie wie unbewusst durch das Geschehen treiben. In seinen schlichten Arrangements entsteht die Erinnerung an viele Apokalypsen der letzten Jahrzehnte. Man denkt an den Sinnverlust in Pasolinis „Teorema“, das große sinnlose Warten der ersten Yuppies in Botho Strauß‘ „Kalldewey, Farce“, die hier wie ein Planet ohne die Schrecken von Lars von Triers „Melancholia“ wirkende Sonne und an das Bildzitat der „Jäger im Schnee“ in Andrei Tarkowskis Film „Solaris“.
Die Isoliertheit der Überfigur Tanja wird behauptet, aber man erlebt diese kaum glaubhaft, so wie Martina Gedeck schicksalsschwanger und mit schwerem Blick unter noch schwereren Augenlidern dahinwandelt. Im Vergleich mit Claus Guths packender Personenführung in „The Turn Of The Screw“ oder der am Wohlstand gebrochenen seelischen Not in seiner „Frau ohne Schatten“ hier an der Staatsoper bleiben die Konstellationen in „Violetter Schnee“ von distanzierter trauriger Neutralität.
Kratzer im Glas unter dem Schein der Wintersonne
Händl Klaus‘ Textbuch besteht aus Satzfragmenten, raunenden Wortflächen und Ungesagtem, das sich als weitgehend sinnfrei erweist. Nach eigener Aussage will Beat Furrer sich absetzen von der Gewöhnung an apokalyptische Bildgewalten. Das Bewusstwerden globaler Veränderungen wurde zum Entstehungsimpuls von „Violetter Schnee“. Die Gleichgültigkeit der Figuren in diesen Veränderungen sind das Thema und inspirierten Furrer zu einer Musik, die ohne dramatische Textualisierung wahrscheinlich zu noch stärkerer Eindringlichkeit finden würde.
Die wächserne, ästhetisierende Bühnenlandschaft und der in sie projizierte Bildungsspeicher bestätigen den Eindruck einer anthropomorphen Eiszeit, die wie der Gegenpol zum erwarteten meteorologischen Heizkesseleffekt wirkt. Beat Furrers artifizielle Musik dazu gleicht Kratzern im Glas unter dem Schein der Wintersonne. 100 Minuten meisterhaft gestaltete Leere.
Staatsoper Unter den Linden Berlin
Furrer: Violetter Schnee
Matthias Pintscher (Leitung), Claus Guth (Regie), Étienne Pluss (Bühne), Ursula Kudrna (Kostüme), Anna Prohaska (Silvia), Elsa Dreisig (Natascha), Gyula Orendt (Jan), Georg Nigl (Peter), Otto Katzameier (Jaques), Martina Gedeck (Tanja), Vocalconsort Berlin, Staatskapelle Berlin
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