„Handlung, wie sie im Textbuch steht“ liest man über der Inhaltsangabe und es ist durchaus verständlich, dass sich Regisseure nicht unbedingt an dem Libretto nach Richard Brinsley Sheridans „The Duenna“ (1775) abarbeiten möchten. Dabei gilt die Komödie über die Flucht zweier junger Frauen aus Madrid, die gegen finanzielle Interessen der Väter die Heirat mit ihren Wunschpartnern durchsetzen, als eine der besten – zumindest für das 18. Jahrhundert. Sergej Prokofjew machte sie auf Anregung seiner zweiten Frau Mira Mendelson nach der weitaus bekannteren „Liebe zu den drei Orangen“ zum Sujet seiner zweiten komischen Oper. Durch den Zweiten Weltkrieg verzögerte sich die Uraufführung bis zum 3. November 1946 im Leningrader Kirow-Theater.
Wie Ermanno Wolf-Ferrari in seinen Goldoni-Opern griff auch Prokofjew musikalisches Material aus dem 18. Jahrhundert auf – hier Reminiszenzen aus der originalen Schauspielmusik von Thomas Linley sen. und Thomas Linley jun. für Sheridans „Ballad Opera“, die er berückend leichtgewichtig modernisierte. Prokofjews Esprit wird überwölbt durch einen großflächigen Melodienreichtum, eine Hommage an die späten Opera buffe Rossinis, Donizettis und Mozart. Als lyrische Komödie und artifizielle Reanimation historisch gewordener Musikbiotope beweist „Die Verlobung im Kloster“ wie „Arabella“ oder Rotas „Florentiner Strohhut“ auch in der Aufzeichnung einer Produktion des Mariinsky-Theaters unter Valery Gergiev mit der jungen Anna Netrebko ihr Potenzial zum Verkaufsschlager.
Melodisch und modisch
Warum aber goutierte man den Premierenabend der Festtage 2019 in der Lindenoper mit dem Prokofjew-Schwerpunkt vor allem pflichtbewusst und nur ansatzweise amüsant? Daniel Barenboim hatte mit Dmitri Tcherniakov, dem man 2008 am gleichen Haus bereits Prokofjews „Spieler“ anvertraut hatte, seinen bevorzugten Regisseur an der Seite. Doch Funken mit Witz und Geistesreichtum sprühten nur zu Beginn von der Bühne, nur am Ende aus dem Graben. Dabei erwies sich das Ensemble als ideal in der vokalen Power und der spürbaren Lust auf überdrehte Komödiantik. Doch diese wurde ausgebremst durch eine nur halbherzige szenische Durchführung der an sich wunderbaren Grundidee und durch musikalische Themaverfehlung.
„Vereinigung anonymer Opern-Abhängiger“ steht in Riesenlettern wie ein Menetekel an der Wand. Die Bühne gibt den Blick frei auf einen hohen Raum. Das könnte der Orchesterprobensaal der Staatskapelle sein, doch die Gruppen von Theatersesseln künden von geplatzten Visionen. Das bestätigt sich: In den nächsten 160 Minuten geht es nicht um Überwältigung, sondern um Bewältigung. Man erlebt den harten, verspielten und desillusionierenden Entzug unauffälliger Wesen, die nie allein den Cut von ihrem Laster schaffen würden und deshalb diese gewiss sündteure Chance nützen. Alle acht werden mittels Text-Intro vorgestellt, zum Beispiel „Stephan“: 39 Jahre alt, Mikrobiologe mit Scheidungsproblematik. „Aida“ ist ein frustriertes Groupie von Jonas Kaufmann, „Violeta“ eine Diva mit Karrieretief und Veränderungsambitionen.
Tcherniakov greift auf, was Romeo Castellucci in „Tannhäuser“ in München vormachte. Dort ging es ebenfalls nicht nur um die Figuren des gespielten Stücks, sondern um die performativen Identitäten der Darsteller, als „Anja“ und „Klaus“ an Särgen standen und den eigenen imaginierten Verwesungsprozess beobachteten. Die Therapiegruppe Unter den Linden will dagegen das pralle Leben ohne Opern-Surrogate und Antidepressiva mit Vitamin B(elcanto). Was hätte das alles für ein Heidenspaß werden können, bis am Ende Maxim Paster als Moderator die Kontrolle über die verhaltensoptimierenden Spielchen verliert und von den Therapie-Profiteuren mit Klebeband geknebelt und gefesselt wird. Nicht auszudenken, was Sönke Wortmann daraus gemacht hätte…
Hier gewinnt man den Eindruck, als hätten der großartige Stephan Rügamer, die stimmlich unerhört charismatische Aida Garifullina, der gewinnende Andrey Zhilikovsky und der hier ungewohnt blässliche Lauri Vasar weitaus mehr Spiellust und Ideenreichtum als von der Regie gewollt. Wenigstens gab es nur Klischees ohne unfreiwillige Karikatur. Spätestens bei den Video-Glücksbotschaften geheilter Opern-Abhängiger und der Vergabe des Wimpels „Für die beste Mitarbeit“ kommt nichts mehr Neues, wirkt das farcenhaft bemühte Chaos immer müder. Der nackte Wahnsinn ist leider nur ein matter Wahnsinn.
Schöne alte Opernwelt
Das schöne Ende ist unvermeidlich. Im Zuschauerraum beobachtet auch Barrie Kosky, der in seiner „Schweigsamen Frau“ für München eine bildschöne Parade von Wagner-Figuren aufmarschieren ließ, wie man diese Idee aufmöbelte. Denn Prokofjews und Sheridans Happy-End ist nicht kompatibel mit Tcherniakovs Spielauflösung , in der die junge russische Mezzosopranistin Anna Goryachova mit Bravour neben Garifullina und Urmana auf das vokale Siegerpodest drängt. Der Vorhang fällt und öffnet sich zum freudigen Erstaunen aller Anwesenden für das „Alternative Finale“ – geträumt von „Stephan“ alias Don Jerome. Dieser bleibt ein unverbesserlicher, rückfälliger Opern-Junkie.
Jetzt kommt endlich der textile Showdown für die hemmungslos den Fundus plündernde Kostümgestalterin Elena Zaytseva: Der bisher nur episodisch benötigte Staatsopernchor steht da im Pomp und Gloria eines ganz großen Subventionstheaters: Es fehlen weder die kleine Frau Schmetterling noch Elektra mit berufsspezifischem Hackebeil, Lohengrin posiert mit Glanz, Wonne und Gummischwan, der Herzog von Mantua schaut aus wie Luciano Pavarotti im Film von Ponnelle.
Das an diesem Abend zeitversetzt reichlich von Sekundenschlaf überwältigte Publikum erwacht durch diese Farbpracht und auch aus der Staatskapelle Berlin jubiliert es plötzlich, als sei man in einem ganz anderen Stück. Warum nicht schon früher so? Man hörte bis dahin viel gepflegtes Parlando und erfreuende Ensemblekultur. Aber ausgedünnt, humorlos und ganz befreit von Prokofjews Doppelbödigkeiten, ohne die das sanfte Melodienbouquet eigentlich nicht auf die Berliner Festtage-Tafel hätte kommen dürfen. Viel Jubel und hörbare Buh-Hartnäckigkeit in den finalen Applaus-Harmonien, die diesmal fast ohne Mittelstimmen breiter Zufriedenheit auskommen mussten.
Staatsoper Unter den Linden
Prokofjew: Die Verlobung im Kloster
Daniel Barenboim (Leitung), Dmitri Tcherniakov (Regie & Bühne), Elena Zaytseva (Kostüme), Martin Wright (Chor), Stephan Rügamer, Andrey Zhilikhovsky, Aida Garifullina, Violeta Urmana, Bogdan Volkov, Anna Goryachova, Goran Jurić, Lauri Vasar, Maxim Paster, Staatskapelle Berlin, Staatsopernchor