Mit seinen konzentrierten, mitunter eigenwilligen, aber aussagekräftigen Bildvisionen sorgt Romeo Castellucci in den letzten Jahren immer wieder für Furore. Unvergesslich der abgeschlagene Pferdekopf am Ende seiner hochgelobten „Salome“-Inszenierung letztes Jahr in Salzburg. Nun hat der Regisseur, der gleichzeitig sein eigener Bühnenbildner, Kostümdesigner und Lichtdesigner ist, als Auftakt der Barocktage an der Staatsoper Unter den Linden sein Berlin-Debüt gegeben. Auch mit einem blutrünstigen Sujet aus der Bibel, allerdings in einem Werk, das den extremen Gegensatz zu Richard Strauss‘ Psychothriller darstellt: In Berlin steht aktuell das Oratorium „Il Primo Omicidio“ des Barockkomponisten Alessandro Scarlatti auf dem Programm, eine Koproduktion mit Palermo und mit Paris, wo das Werk bereits im Januar lief.
Il Primo Omicidio: Ein Stück, das auf Zurückhaltung und versunkene Meditation setzt
Wie der italienische Titel andeutet, behandelt „Il Primo Omicidio“ den ersten Mord der Menschheitsgeschichte, biblisch betrachtet: die Geschichte von Kain und Abel. Der Neapolitaner Alessandro Scarlatti, prägend für die italienische Barockoper, musste in seinen Jahren in Rom auf Oratorien ausweichen. Die Kirche verbot Opernaufführungen. Stattdessen dienten geistliche Werke über biblische Handlungen mit gebremst dramatischem Potenzial als Opernersatz. Mit „Il Primo Omicidio“ kommt somit auch kein üppiges Barockspektakel auf die Bühne, sondern ein Stück, das auf Zurückhaltung und versunkene Meditation setzt, dezent in Affekten und Atmosphäre, mit verschieden abschattierten Varianten der Klage. Herausforderung und Chance für die Umsetzung gleichermaßen.
Romeo Castellucci erzählt den ersten Teil von „Il Primo Omicidio“, der die Vorgeschichte des Brudermordes bringt, mit abstrakter Symbolik, vor einer Fläche, deren Farben und Formen wie ein in Nebel getauchter abstrakter Expressionismus eines Mark Rothko wirken. Die sich langsam bewegenden horizontalen Balken des farblich sich wandelnden, semitransparenten Bühnenhintergrunds erweisen sich als Nachschein jenes Flammenschwerts, mit dem Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben wurden. Es wird in einer Szene zu Beginn als brennende Horizontale angedeutet. Damit fing alles an: Mit dem verschlossenen Paradies hat der mündige Mensch auch die freie Entscheidung für oder gegen das Böse erlangt. Dies wird in Romeo Castelluccis Lesart von Gott in die Wege geleitet. Hass, Neid, Habgier, Hybris sind nunmehr als Möglichkeiten im Menschen angelegt. Die Perspektive der Inszenierung vermeidet platte Polarisierungen: Blut, nämlich jenes des Opfertieres, klebt schon am späteren Mordopfer Abel, der sich anmaßt, einen zürnenden Gott gewissermaßen zu bestechen. Sind seine Motive nur lauter und edel, oder will er sich einen Vorteil vor den Eltern verschaffen?
Die biblische Geschichte erzählt, dass nur Abels Tieropfer Gott gefällt, nicht aber jenes von Kain, der Feldfrüchte verbrennt. Dies wird so schlicht wie sinnfällig in der Inszenierung mit zwei Nebelmaschinen gezeigt: Der Sänger der Stimme Gottes entledigt sich seines Jacketts und legt es über Kains Nebelmaschine, deren Dampf damit erstickt wird. Wenn sich später Satan mit Einflüsterungen Kain nähert, Wut und Enttäuschung ausnutzt, um ihn zum Brudermord anzustiften, wird durch ein einvernehmliches kurzes Händeschütteln deutlich, dass Gott und Satan gemeinsame Sache machen. Kain ist lediglich Werkzeug in diesem Plan.
Castelluccis Perspektive aus dem 21. Jahrhundert eröffnet einen kleinen Hoffnungsschimmer am Schluss
Der zweite Teil des Stücks, der den Brudermord und die Folgen zeigt, bedient sich einer völlig anderen Bildsprache. Das Geschehen spielt nun auf einem steinigen Feld unter einem Nachthimmel, auf Kains Acker. Die Gesangssolisten ziehen sich in den Orchestergraben zurück, Kinderdarsteller kommen als ihre lippensynchron agierenden Doubles auf die Bühne. Für Castellucci ist dies eine szenische Umsetzung der Theodizee, also der Frage, weshalb ein liebender Gott das Böse zulässt, die Schuldfrage wendet sich hier gegen Gott. Bei der Tötung Abels drischt das Kinderdouble des Kain wie im Blutrausch mit einem Stein auf den Bruder ein. Gerade diese Szene erlaubt auch Assoziationen mit William Goldings Roman „Der Herr der Fliegen“, wo Halbwüchsige auf einer einsamen Insel eine Terrorherrschaft errichten. Bei „Il Primo Omicidio“ zeigt Castellucci die Folgen des Bösen im Menschen, indem die Bühne mit einfachsten Theatermitteln zum Eisfeld oder zur Salzwüste wird, zu einem verödeten Ort.
Das Libretto fordert dagegen natürlich das unvermeidliche barocke Lieto fine, das glückliche Ende der Geschichte, mit Blick auf das Neue Testament, Kreuzestod, Erlösung. Castelluccis Perspektive aus dem 21. Jahrhundert eröffnet einen kleinen Hoffnungsschimmer am Schluss. Die Sängerin der Eva und der Sänger des Adam suchen ihre Kinderdoubles unter der Folie auf der Bühne. Am Ende umarmen sie diese zärtlich. Diese Kinder werden es vielleicht gar nicht nötig haben, Zuwendung und Aufmerksamkeit durch zerstörerische Taten zu gewinnen.
René Jacobs trägt mit dem gastierenden B’Rock Orchestra schlüssig die Ausrichtung der Inszenierung
Die Wahl des für die Opernbühne eher ungewöhnlichen Werks geht auf den Dirigenten René Jacobs zurück, langjähriger Residenzkünstler bei den Barocktagen der Staatsoper. Er trägt mit dem gastierenden B’Rock Orchestra schlüssig die Ausrichtung der Inszenierung mittels einer breiten instrumentalen Farbpalette: Im ersten Teil sphärenhaft und schwebend in dunklen Farben; zupackend, rhythmisch bewegter, kontrastreicher und mit verstärktem Schlagzeugeinsatz im zweiten Teil.
Aus dem Orchestergraben lodert und glüht es intensiv mit wohldosierter Dramatik. Die Gesangssolisten reihen sich in diese Strategie überzeugend ein. Die Mezzosopranistin Olivia Vermeulen gibt einen lichtdurchfluteten, mitunter vor Optimismus berstenden Macher Abel, ihre Fachkollegin Kristina Hammarström einen bewusst kantigeren Kain. Birgitte Christensen verleiht mit rundem Sopran der Eva Wärme. Thomas Walker hätte indes den Adam noch pointierter in der Linienführung bringen können. Countertenor Benno Schachtner und Bassbariton Arttu Kataja geben den Stimmen Gottes und Satans jeweils dramatisches Profil. Unbedingt zu erwähnen sind die Kinderdarsteller als Doubles der handelnden Figuren, ohne deren enorme Präsenz das gesamte Konzept dieser besonderen Spielart von barockem Musiktheater nicht aufgehen würde. Der Reiz dieser stringent gedachten Produktion ist, dass sie subtil eine eigene Haltung zur Geschichte als Angebot bietet und gleichzeitig atmosphärisch eindrucksvolle Assoziationsräume eröffnet – von Dystopien bis zu Fridays for Future.
Staatsoper Unter den Linden
A. Scarlatti: Il Primo Omicidio
René Jacobs (Leitung), Romeo Castellucci (Inszenierung, Bühnenbild, Kostüme & Licht), Silvia Costa (Mitarbeit Regie), Benedikt Zehm (Mitarbeit Licht), Piersandra Di Matteo, Christian Longchamp, Jana Beckmann (Dramaturgie), Kristina Hammarström (Caino), Olivia Vermeulen (Abele), Birgitte Christensen (Eva), Thomas Walker (Adamo), Benno Schachtner (Voce di Dio), Arttu Kataja (Voce di Lucifero), Jeremias Hübener, Oriol Bresser, Elli Seiffert, Ennio Kurth, Lukas Ray & Lionel Krüger (Kinderdarsteller), B’Rock Orchestra