Großartig, bewegend, teledramatisch! Bei der Stream-Premiere aus der Staatsoper Unter den Linden Berlin kam alles zusammen. Nach einigen matten Projekten zeigt sich Calixto Bieito in analytischer und bildhafter Glanzform: Böse und des Glaubens an das Gute verlustig wie ein gefallener Engel. Denn sogar dieser Lohengrin in Weiß ist hinter der Aura des Heiligen verwerflich. Damit verhält sich Bieito nicht wie Olivier Py in seiner Inszenierung von „Le Prophète“ an der Deutschen Oper Berlin gegenüber christlichen Konfessionen wie ein Pubertierender in der Trotzphase, sondern wie ein echter unbekehrbarer Abtrünniger. Denn Bieito zeigt, wie das überwundene Schlechte unter der Maske des Auratischen wiederkehrt. Lohengrin ist der weiße Zombie des kollektiv Verdrängten und der Attitüde eines Seelsorgers.
Eingefangen wurde das von den Kameras mit derart telegener Verdichtung, dass man die vierte Wand des Screens vergaß. Und es regierte der musikalische Geist von Weimar 1850, egal ob Rebecca Ringst den Gerichtssaal von München-Stadelheim imitierte oder den modellhaften Rechtsraum eines gefährdeten Systems auf die Bühne stellte. Martin Gantner als Telramund, die vor zwei Wochen für Sonya Yoncheva eingesprungene Vida Miknevičiūtė als Elsa, Ekaterina Gubanova als latent hysterische Ortrud und René Pape als Staatsoberhaupt, dem man die Last der Politik am Zittern und verzerrten Gesicht ansah, bildeten ein Star-Quartett. Roberto Alagnas physische Statur passt glänzend in Bieitos Panorama, aber für Wagner hat er (noch) die unpassende Stimme. Martin Wright brachte in der vorerst einmaligen Aufführung die Chor-Gruppe im Geschehen und die Massen auf der Hinterbühne zu eindrucksvoller Klangpracht.
Elsa und der liebe Schwan
Es geht um weitaus mehr als einen anstehenden Regierungswechsel. Die vom Chor mit zerrissener Hochspannung erwartete Verhandlung zwischen der des Brudermords bezichtigten Elsa im weißen Käfig und dem beim Taktieren grau gewordenen Telramund werden die Karten neu gemischt. René Pape hält die Zügel zum Volksvertrauen nur noch mit schlaffen Händen und ist in einem nervlichen Zustand wie Angela Merkel nach dem vierten Lockdown im Herbst 2021. Massen gieren nach Wundern in schon erotischer Besessenheit, neben der Elsa bis zu ihren zerknirschten Beichtgesten am Ende kühlen Leibes bleibt. Zur entscheidenden Ansprache macht sich der Heerrufer die Lippen rot, Adam Kutny spielt den in dionysischen Rausch flüchtenden Demagogen.
Wenn die physische zur politischen Missionarsstellung wird
Erst blendet der prominente tenorale Gralsritter im weißen Mantel und mit dem weißen Origami-Schwan alle. Zwei der von Wagner mit Schwert vorgesehenen Kampfhandlungen zwischen Lohengrin und dem Politstrategen Telramund bleiben bei Bieito gewalt- und blutfrei, der Pragmatiker weicht dem populistisch grellen Heiligen: Alagna übertüncht toxische Männlichkeit mit der Aura von Integrität. Später im Film zum Hochzeitstaumel macht sich ein weißer Schwan an der Vulva einer Farbigen zu schaffen, und wenn Elsas adoleszenter Bruder Gottfried wiederkommt, kreist sein Riesenschwert noch lange. Deutlicher kann nicht gezeigt werden, wie die physische zur politischen Missionarsstellung wird.
Weißer Heiliger, weiße Hochzeit, weiße Ehe
Bieito deutet an, dass Lohengrin eine Projektion Elsas sein könnte, die ihren kindlichen Bruder mit den Augen einer begehrenden Frau betrachtet. Aber – das macht seine Produktion noch stärker – er verlässt sich nicht auf diesen Nebengedanken. Ortrud scheint in zerfließender Hingabe mehr am konzilianten Lohengrin interessiert als an ihrem Missbrauch zwar denkenden, aber selbstquälend reflektierenden Ehegatten Telramund. Man hört es: Martin Gantner wäre fast der bessere Heldentenor, weil er sein imponierendes Höhenmaterial nicht an das Klischee des schwarzen Wagner-Baritons verrät. Die Vokalpositionen von fraulichem Seelenton und zerklüfteter Attacke sind zwischen Ortrud und Elsa vertauscht. Ekaterina Gubanova ist der Traum einer ausgebooteten Alpha-Lady: Elegant, mit profundem Charisma, intelligent und von verführerischer Stimme. Bei Vida Miknevičiūtės Elsa merkt man, wie diese Frau sich hingeben will, aber nicht kann. Das spiegelt sich mit faszinierenden Tönen auf herbem Fundament. Für Elsa ist die Völlerei vor der Riesentorte das beste an ihrer Hochzeit, die auch fürs Volk in erster Linie Kamelle und Karneval bedeutet. Im Brautgemach bleibt Elsa nicht nur wegen Lohengrins wenig lockendem Gesang skeptisch.
Den ganzen Abend rotieren Kollektiv- und Einzelschicksale in geballter Intensität. Mit der hyänenartigen Gläubigkeit für den letzten Anker des marodierenden Systems, mit dem Friedhof der Kinderpuppen bei der nächtlichen Auseinandersetzung Ortruds und Telramunds lässt Bieito Assoziationen an seinen Stuttgarter „Parsifal“ zu. Im abgehalfterten Politsystem sind die Brautjungfern in Weiß bei Elsas Brautzug das leckermäulige Trostpflaster für den alle sozialen Schichten repräsentativ abbildenden Herrenchor.
„The Sound of Weimar“
Nur wer Martin Haselböcks Rekonstruktionen des Klangs der Weimarer Hofkapelle unter Franz Liszt, der dort die Uraufführung 1850 dirigierte, noch nicht erlebte, konnte über das musikalische Berliner Resultat erstaunt sein. Matthias Pintscher, als Komponist ein Verfechter opulent oszillierender Orchester-Biotope, versuchte an lyrischen Stellen noch Kompromisse in Richtung des mildmilchigen Ideals, das viele mit Wagners „Glanz-und-Wonne“-Held identifizieren. Mit dieser Orchesterstärke liegt die Partitur wie von selbst mehr bei „Rienzi“ und Meyerbeer denn beim postbelcantesk-präimpressionistischen Unikat, als das man „Lohengrin“ gern konsumiert. Die politische Dimension wird also deutlicher, der Impetus härter – und vor allem hört man in dieser Lesart weitaus eindringlicher Wagners Glaube daran, dass nur Frauen die Welt erlösen könnten, wenn…
Die Masse sieht nur, was sie sehen will
Aber noch besser ist vernehmbar, warum diese Utopie scheitern muss. Bieito macht sich das für die Arbeit mit dem Potenzial Roberto Alagnas kongenial zunutze. Wie zuletzt in Berlin als „Vasco de Gama“ modelliert die französische Spinto-Granate einen Kometen, bei dem die Behauptung von Charisma seine Rollenpotenz deutlich übertrifft. Wäre er nicht durch den Nimbus der Heiligkeit geschützt, hätte Alagnas Lohengrin keine Chance. Die Masse sieht nur, was sie sehen will, und das ist der Sturz Telramunds. Bieitos Regie-Strategie ist also hochdiplomatisch. Denn Alagnas Lohengrin wächst in diesem Rollendebüt vor allem durch die Ausdrucksgewalt der Kolleginnen und Kollegen um sich, weniger durch eigene Stamina. In dieser Premiere hat Wagners zerrissenes Rumoren also mehr akustischen Raum als nazarenische Glaubensmilde. Und man sieht bei Bieito beklemmend, wie sich im Untergrund der Krisen des Pluralismus die dunklen Kräfte von Chauvinismus und Gewalt aufbäumen. Romantische Oper als Politthriller und deshalb imponierend Wagner-affin.
Staatsoper unter den Linden Berlin
Wagner: Lohengrin
(Stream-Premiere in Orchesterbesetzung der Uraufführung Weimar 1850, zeitversetzte Fernsehübertragung auf ARTE)
Matthias Pintscher (Leitung), Calixto Bieito (Regie), Rebecca Ringst (Bühne), Ingo Krügler (Kostüme), Martin Wright (Chöre), Roberto Alagna (Lohengrin), Vida Miknevičiūtė (Elsa von Brabant), Martin Gantner (Friedrich von Telramund), Ekaterina Gubanova (Ortrud), René Pape (Heinrich der Vogler), AdamKutny (Heerrufer des Königs), Staatsopernchor Berlin, Staatskapelle Berlin