In der jüngeren Musiktheater-Geschichte ist es eher ungewöhnlich, was bis weit ins 19. Jahrhundert von „Alcina“ bis „Orlando“ selbstverständlich war: Die mehrfache Vertonung eines Stoffs in enger Zeitfolge. Jetzt gab es einen Ausnahmefall: Gleich zwei prominente Komponisten vertonten László Krasznahorkais Roman „Melancholie des Widerstands“, die surreale Vision einer populistischen Machtübernahme aus dem Jahr 1989. Der am 24. März 2024 verstorbene Péter Eötvös brachte seine Adaption in Budapest und Regensburg heraus, Marc-André Dalbavies Komposition des Librettos von Guillaume Métayer folgte jetzt als Auftragswerk der Staatsoper Unter den Linden Berlin.
Beide Opern und deren Inszenierungen entstanden in zu enger Parallele, als dass sich ihre Schöpfer gegenseitig über die Schulter hätten blicken können. Die Ergebnisse gelangen äußerst unterschiedlich: Eötvös modellierte das vieldeutige Geschehen mit zwei stark voneinander abweichenden Fassungen in ungarischer und deutscher Sprache in klarer musikdramaturgischer Architektur. Dalbavie dagegen schuf in seiner fünften Oper ein weich sensibilisierendes, dabei überwiegend kammermusikalisches Geflecht mit fest in der französischen Tradition verankerter Behandlung der Singstimmen. Bei der Uraufführung in der Lindenoper leitete ein begeistertes „Bravi“ veritable Applaus-Salven für Werk und Wiedergabe ein.
„Filmische Oper“ ohne musikalische Power
Eine Verfilmung des Romans durch den ungarischen Regisseur Béla Tarr entstand bereits 2000 unter dem Titel „Die Werckmeisterschen Harmonien“. Der Titel zielt darauf, dass der Musiker Georges Esther seine Versuche einer Wiedereinführung der „unreinen Stimmung“ als Bollwerk gegen die politischen Aktionen seiner Ehefrau Angèle setzt. An zentraler Stelle sagt er zum Postboten und poetischen Tagträumer Valouchka: Die Musik müsse einen schönen Schein über die Desaster der Welt legen. Wer diesem ästhetischen Legitimationspostulat allerdings nicht nachkam, war der Komponist Dalbavie.
Der Wechsel zwischen Poesie und Gewalt ist in diesem Gespinst von Handlung und Konstruktion äußerst filigran – auch in David Martons Inszenierung. Drittes Hauptmittel neben der Musik und den in Simultan- oder Parallelaktion unter die auf der Bühne dominierende Leinwand gesetzten Szenen waren die abendfüllenden Filme über der 130 Minuten-Partitur. Chris Kondeks Aufnahmeleitung, das Kameraduo Chantal Bergemann und Adrien Lamande hatten mit dem Sounddesigner Torsten Ottersberg Protagonistenformat. Deren Film- und Livematerial fängt das Kleinstadt-Kolorit irgendwo in Europa ein, hier als Mix aus Ungarn und Frankreich mit viel Nebel und wenig Sonne.
Lebensunfrohe und bizarre Düsternis
Das ist der stärkste Eindruck dieser Uraufführung: Ihre lebensunfrohe und bizarre Düsternis. Die suggestive Visionierung verselbständigt sich gegenüber Dalbavies Musik mit einer erst von den Fortissimo-Akkorden am Ende durchbrochenen Dominanz. Da ist Valouchka auf der Flucht, nachdem er mit anderen Männern in der marschierenden Schläger-Masse aufging.
Neues ganz schön alt
Dalbavies Komposition gibt sich nobel und ist dabei von adeliger Dünnblütigkeit. Die zahlreichen Simultanszenen, in denen die Gesangsstimmen oft instrumental behandelt werden, hat Dalbavie statt einer Nummern- und Satzfolge in eine „Architektur“ gegliedert: Exposition, Durchführungen, Coda mit Unterkapiteln und symphonischen Zwischenspielen. Instrumental gibt es manchmal Berückendes, was mit der somnambulen und morbiden Bühne von Amber Vandenhoeck und Pola Kardums Kostümen bestens korrespondiert. Obwohl diese das Geschehen in der legendenhaft patinierten Gegenwart ansiedeln, sehen alle Requisiten wie das Ambiente ganz schön alt aus.
Leicht archaisch klingen auch die Ariosi, Dialoge und Rezitative. Dalbavie verlässt in keiner Sekunde die langen Schatten französischer Vokalkomponisten von Hahn bis Messiaen und Dutilleux. Am Pult bringt Marie Jacquot mit der Staatskapelle Berlin ein angemessenes, aber nie dominierendes Glänzen ein. Die aufstrebende Meisterdirigentin kann das Dilemma der Partitur nicht vermindern: Das Fehlen der Musik würde über weite Strecken nicht auffallen. Diese Antibalance macht den Abend zum Musiktheater ohne Dringlichkeit seines wichtigsten und zentralen Mittels. Dalbavie verzichtete in lethargischer Kapitulation auf alle Aktions- und Effektsignaturen, zu denen der Quellentext doch herausfordert.
Letztlich: Theater der Sängerinnen
Im Ensemble der Lindenoper befinden sich starke Charakterköpfe mit stimmlichem Nachdruck: Matthias Klink als Musiker Georges Esther, Roman Trekel als Notable Hagelmeyer, David Oštrek als Notable Madai und Jan Martinik als Zirkusdirektor mit dem größten Wal der Welt im Schlepptau. Überstrahlt werden sie von der durch Molnar und die Kamera charismatisch in Szene gesetzte Hauptpartien-Trias. Philippe Jaroussky, der sogar eine berückende kleine Kanzone singen darf, macht sein bemerkenswertes Counter-Material ganz weiß und fast unscheinbar. Er geht als poetischer Clown mit fragenden Augen durch die Handlungsdämmerung.
Dalbavie liefert neben manchen Plattheiten zum Glück wenigstens Ansätze für die von Molnar packend verdichtete Fallstudie der in Konventionen befangenen Rosi Pflaum, die ihren Sohn Valouchka im ständigen Widerstreit von Klammern und Abstoßung erdrückt. Sopran-Star Sandrine Piau spielt die verhärmte Kleinbürgerin in ihrer desolaten Wohnidylle aus Kitsch-Nippes und Häkeldecken, in der Rosi Pflaum ganz gewiss viele, viele „Angélique“- und Pilcher-Romane verschlungen hat. Piau baut aus ihren Szenen ein ausgezehrtes Monodram, in welcher das Schweigen so beredt ist wie das Singen.
Ganz vital und als Vollfrau verkörpert die großartige Tanja Ariane Baumgartner dagegen die Populistin Angèle Esther. Diese von der Männerchor-Leitung zur Frauenversammlung gewechselte Granate in Blond macht populistische Politik mit dem Unterleib und ist überall ganz bei sich – bei den Reden für ihre Aktion „Gekehrtes Heim, Ordnung muss sein“, beim strategischen Flirten, beim Taktieren und bei der mit jeder Pore und Wimpernklimpern betriebenen Lobbyarbeit. Baumgartner und Piau reißen diese „Melancholie des Widerstands“ aus der ästhetisierenden Lethargie: Sie beide faszinieren mit Schreckensbildern vormoderner Fraulichkeit und deren fataler zukunftsfähiger Relevanz.
Staatsoper Unter den Linden Berlin
Dalbavie: Melancholie des Widerstands (Mélancolie de la résistance)
Marie Jacquot (Leitung), David Marton (Konzept & Inszenierung), Amber Vandenhoeck (Bühne), Pola Kardum (Kostüme), Chris Kondek (Leitung der Fotografie), Chantal Bergemann, Adrien Lamande (Kamera), Miriam Damm (Licht), Torsten Ottersberg (Sounddesign), Franziska Baur, Detlef Giese (Dramaturgie), Matthias Klink, Tanja Ariane Baumgartner, Sandrine Piau, Philippe Jaroussky, Roman Trekel, Christian Oldenburg, David Oštrek, Sébastien Dutrieux, Anna Kissjudit, Jan Martiník, Julian Mehne, Rory Green, Viktor Rud, Ulf Dirk Mädler, Taehan Kim, Adam Kutny, Florian Hoffmann, Staatskapelle Berlin