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Opern-Kritik: Staatsoper Unter den Linden – Quartett

Lust am Untergang

(Berlin, 3.10.2020) Mit ihrer traditionell angesetzten Premiere zum Jahrestag der Wiedervereinigung landet die Staatsoper Unter den Linden einen großartigen Coup: Luca Francesconis Oper nach dem Schauspiel von Heiner Müller erklingt erstmals in deutscher Sprache.

vonRoland H. Dippel,

Zu schwarzen Atemmasken greifen sie nur selten. Die letzten Überlebenden des Anthropozäns erwarten ihr Ende in einem Bunker, dessen Kuppel aussieht wie der grüne Planet bei Einlieferung auf der Intensivstation. Aber die letzten Gespräche kreisen nicht um Reue oder den Verlust von Lebensraum und Zivilisation, sondern um Lust und deren Funktionalisierung als Herrschaftsinstrument. Den Aktionsort für seinen 1982 am Schauspielhaus Bochum uraufgeführten Theatertext definierte Heiner Müller als „Salon vor der Französischen Revolution/Bunker nach dem dritten Weltkrieg“.

Thomas Oliemans (Vicomte de Valmont), Mojca Erdmann (Marquise de Merteuil) und Francesca Ciaffoni (Tänzerin)
Thomas Oliemans (Vicomte de Valmont), Mojca Erdmann (Marquise de Merteuil) und Francesca Ciaffoni (Tänzerin)

In weiter Bluse und mit offenem weißen Hemd (Kostüme: Julia Kornacka) wirken Merteuil und Valmont wie Patienten oder Heilige. Aber dieses unschuldige Weiß trügt. Dazu wandert die durch Barbara Wysockas intensive Personenregie überflüssige Tänzerin Francesca Ciaffoni als dunkler Punkt im Raum mit schwarzen Stühlen. Das könnte in vor-apokalyptischen Zeiten ein Probensaal gewesen sein (Bühne: Barbara Hanicka). Aufforderung zu körperlicher Distanz ist unnötig, denn zwischen den letzten Menschen errichtet die Rhetorik von Choderlos de Laclos‘ Roman „Gefährliche Liebschafte“ Mauern aus frostigem Begehren und Kopulationsvisionen. Merteuil und Valmont haben alle erotischen Stadien ausgekostet und durchlitten. Aus ihren Dialogen sprüht vergiftete Ratio. Diese Übermenschen stehen neben ihren Trieben, haben aber das von Yuval Noah Harari definierte Stadium des Homo Deus noch nicht erreicht. Und werden es auch nicht – das ist ihr einziges Leid im globalen Niedergang.

Menetekel der Spaßgesellschaft 1990

Die Berliner Staatsoper Unter den Linden hat bei ihrer traditionell angesetzten Premiere zum Jahrestag der Wiedervereinigung einen großartigen Coup gelandet: Der Generationenwechsel zur Entstehung zu Heiner Müllers Text ist vollzogen. Und Luca Francesconi (Jahrgang 1956), der mit Shakespeares „Timon von Athen“ für die Bayerische Staatsoper schon seine nächste Dunkelpartitur vollendet, freut sich wie ein Schneekönig, dass neun Jahre nach der Uraufführung an der Mailänder Scala 2011 sein Libretto endlich in deutscher Sprache erklingt. Noch dazu dort, wo es aufgrund des Lebensortes Müllers hingehört – in Berlin!

Thomas Oliemans (Vicomte de Valmont) und Francesca Ciaffoni (Tänzerin)
Thomas Oliemans (Vicomte de Valmont) und Francesca Ciaffoni (Tänzerin)

Nur aus gewaltigem Respekt vor dem Bedeutungsreichtum und der Komplexität von Müllers Text hatte sich Francesconi zur Komposition in global kompatiblem Englisch entschlossen. Müller, der den seine deutsch-deutsche Reputation beschleunigenden Erfolgsdurchbruch durch Aufführungen in englischer und französischer Sprache erlebte, hätte sicher nichts dagegen gehabt. Denn dessen Meisterschaft bestand nicht nur in Mythen-Fokussierungen, sondern auch in der Selbstbedienung aus vielerlei Text-Steinbrüchen. Müller hatte den Briefroman de Laclos, der um die Wiedervereinigung 1990 durch Stephen Frears‘ und Miloš Formans Filme ein genussintensives Menetekel der frühen Spaßgesellschaft wurde, nach eigenen Angaben nie ganz gelesen. Die quälerische Pointenschlacht fand er im Vorwort von Heinrich Mann.

Apokalypse-Spezialist Lindenoper

Von fatalistischer Bitterkeit ist die Oper trotz ihrer akustischen Beschönigungen des ent-emotionalisierten Zivilisationssterbens. Dabei bleibt es unwesentlich, ob sich Valmont und Merteuil im Geschlechterkampf vor der Opernapokalypse – auf dieses Genre versteht sich die Lindenoper seit Beat Furrers „Violetter Schnee“ außerordentlich gut – in verseuchte, aber kraftlose Spermizide verwandeln. Mojca Erdmann und Thomas Oliemans liefern mit Stimmen, Haut und Eingeweiden ein Duell, in dem der Empathie-Verlust laute Orgien feiert. Barbara Wysocka, der es angesichts der gegenwärtigen ökologischen, ökonomischen und sozialen Dystopien unserer Welt kalte Schauer über den Rücken jagt, inszenierte dieses Ex-Paar zu einer Normalität, die Müllers syntaktische Peitschenhiebe schier unerträglich macht. Das emotionale Grausen flutet sogar noch, wenn Francesconis leise Kollaps-Attitüden etwas kulinarisch geraten. Ein starkes Bild: Zerknülltes Papier fällt wie tote Vögel von oben und menschliche Paarungen entrollen sich als Dokumentarfotografien in Schwarzweiß.

Mojca Erdmann (Marquise de Merteuil) und Thomas Oliemans (Vicomte de Valmont)
Mojca Erdmann (Marquise de Merteuil) und Thomas Oliemans (Vicomte de Valmont)

Bei Müller und verstärkt durch Francesconis Text-Einrichtung wird der Mann zum Gefühlsmensch: „Ich glaube, ich könnte mich daran gewöhnen, eine Frau zu sein.“, singt Valmont mit lyrischer Exaltation in BH und Stöckelschuhen. – „Ich wollte, ich könnte es.“, antwortet die durch Verstand, Lust und Sein zerrissene Merteuil. Nach Valmonts Hinscheiden endet „Quartett“ als perfide Metamorphose von „Der Tod und das Mädchen“: „Jetzt sind wir allein. Krebs mein Geliebter.“ erlischt die Partitur mit Textprojektion, von Mojca Erdmanns jugendlich stählernem Sopran fast unhörbar skandiert und vom zugespielten Chor der Mailänder Scala gehaucht.

Untröstliches Klangkuscheln

Die ersten dreißig Minuten des durch IRCAM zur Uraufführung erstellten Mastertapes mit Ergänzung durch das von Daniel Barenboim eher lässig als energisch geleitete Ensemble aus der Staatskapelle Berlin geraten faszinierend. Merteuil schneidet sich Strähnen ihres Haars ab und das Scherengeräusch wandert durch den Zuschauerraum, wird nicht ortbar und bleibt in der nächsten Viertelstunde mit leitmotivischen Nachdruck präsent. Drei IRCAM-Gesandte halten den hochkomplizierten Klangapparat zusammen und ermöglichen Barenboim eine gewaltige, später durch Francesconis schlichte Struktur an Eindringlichkeit verlierenden Klangrausch zum 450-jährigen Staatskapellen-Jubiläum. Der Komponist kontrastiert das Drinnen der beiden Figuren, die Katastrophe draußen und, als sei er Stockhausens Adoptivsohn, Freude an der fast tröstlichen Metaphysik für Zuspielchor und synthetisches Klangkuscheln.

Mojca Erdmann (Marquise de Merteuil) und Francesca Ciaffoni (Tänzerin)
Mojca Erdmann (Marquise de Merteuil) und Francesca Ciaffoni (Tänzerin)

Aber Wysocka und die Solisten verweigern sentimentale Reflexe auf Francesconis meisterhafte Taschenspielertricks, lassen sich nicht zu schreienden Ausbrüchen hinreißen. Die desto unerbittlicher heranschleichende Kälte kommt aus kleinen Bewegungen und einer phänomenal geschärften Diktion, bei der elektronische Verstärkung endlich einmal dramaturgischen Mehrwert hat. Die Bunkerkuppel dreht und die tote Erde hat uns wieder. Verdammt hellsichtig war Heiner Müller, weil der Text viel weiter ausholt als zu den Kollektivängsten im Kalten Krieg, und Francesconi ist es mit retro-spirituellen Gesten. Aber diese ästhetisch bestechende Klanglichkeit tröstet nicht. Großer Applaus – die Berliner Opernwelt zeigt sich Neue-Musik gestählt und hart im Nehmen. Welche Apokalypse folgt wohl jetzt – nach „Violetter Schnee“ und „Quartett“?

Staatsoper Unter den Linden Berlin
Francesconi: Quartett

Daniel Barenboim (Leitung), Barbara Wysocka (Regie), Barbara Hanicka (Bühne), Julia Kornacka (Kostüme), Irene Selka & Artur Sienicki (Licht), Artur Sienicki & Barbara Wysocka (Video), Serge Lemouton, Luca Bagnoli, Julien Aléonard (IRCAM/Aufnahme,Schnitt – Chor und Orchester des Teatro alla Scala Mailand), Mojca Erdmann (Marquise de Merteuil), Thomas Oliemans (Vicomte de Valmont), Francesca Ciaffoni (Tanz), Staatskapelle Berlin

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