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Opern-Kritik: Staatstheater Darmstadt – La Muette de Portici

Der Gedanke als Saat ein jeder Revolution

Das Staatstheater Darmstadt nimmt die ideenreiche und aufmerksamkeitsfordernde Kasseler Inszenierung von „La Muette de Portici“ auf. Das Staatsorchester glänzt mit vitaler Lesart, die Hauptpartien lassen indes am Premierenabend viel auf Strecke liegen.

vonPatrick Erb,

Es ist wohl eine Eigenschaft turbulenter, revolutionärer, gar umstürzlerischer Zeiten, dass sie erheblich dazu neigen, chaotisch zu sein und in entropische Prozesse zu münden. Ereignisse treten in Gang, die niemand erwartet oder gewollt hat. Viel Unvorhergesehenes geschieht gleichzeitig. Ein solches Szenario skizzierten auch Daniel-François-Esprit Auber und dessen Librettist Eugène Scribe in „La Muette de Portici“, das nun am Staatstheater Darmstadt in der Kasseler Inszenierung von Paul-Georg Dittrich zu erleben ist. Aubers Libretto ist eine Bearbeitung des Stoffes um Masaniello, eines neapolitanischen Fischers, der Ende des 17. Jahrhunderts gegen die verhassten spanischen Besatzer einen Aufstand vom Zaun brach.

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Dittrich wiederum kennt die Schwächen des fragwürdigen, mit einem amourösen Liebesdreieck bestückten und von der damaligen Zensur geschwächten Werks nur allzu gut. Vielmehr blickt der Regisseur auf das Wesen von durch Unmut geprägten Revolten: in diesem Werk ebenso wie im Jetzt – und das mit einer bilderreichen, fordernden und nicht zuletzt verwirrenden Dichte. Schließlich liegt ja der Geist der Revolution ein bisschen in allem, und die Existenz des Menschen ist geprägt davon, Ungerechtigkeiten zu ertragen oder sich von diesen zu befreien. Man sollte sich nicht überwältigen lassen von diesen Gedanken – von den Hirngespinsten, der Flut an Informationen, an Täuschungen oder liebgewonnenen Halbwahrheiten. Besser, man geht geordnet darauf ein.

Szenenbild aus „La Muette de Portici“
Szenenbild aus „La Muette de Portici“

Stumm, aber viel zu sagen

Ein starkes, handlungstragendes Element bleibt die Marionette, die zusammen mit einer Schauspielerin die stumme Hauptrolle Fenella spielt. Obgleich schweigend, sagen Gestik, Mimik und Bewegung dieser Puppe viel. Sich des historisch verstaubten Librettos samt konstruierter Liebesbeziehung zu entsagen, zu dem heute wohl niemand mehr einen rechten Zugang findet, scheint geboten. Dies gelingt durch eine besondere Lichtregie und eine präzise personelle Choreografie, die das gespielte feuergeladene Drama von den gesungenen Gefühlen in barocken Brechungen trennt, sowie durch gespielte Einschübe, die die Gattung „Grand Opéra“ komödiantisch hinterfragen. Soweit so gelungen.

Eine Inszenierung „All you can eat“

Aktualität schafft Dittrich, indem er den Blick darauf richtet, was den Unmut von Menschen heute nährt, bis es schließlich zu Protesten und Demonstrationen kommt. Er lässt dabei Darmstädter Bürger zu Wort kommen, die berichten, was sie bewegt: Themen wie Wohlstand, Sucht, Klima, Vergewaltigung und andere. An anderer Stelle wird zum Nachteil des Klangerlebnisses der eiserne Vorhang des Staatstheaters heruntergelassen, um darauf Impressionen einzublenden – etwa die Freiheitsikone Georg Büchner samt literarischem Kernschaffen oder eine Live-Schalte zum Theater-Vorplatz, wo anscheinend die Revolution ausgerufen wird.

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Die Ideen erscheinen in zunehmend bulimischer Dichte, mal hier ein „Bella Ciao“, mal dort ein „Die Gedanken sind frei“ – die Musik wird zum musikalischen Beifang degradiert. Eine vergleichbare sängerische Tiefe erreicht man in Darmstadt nicht: Matthew Vickers, der die singende Hauptrolle des Anführers Masaniello spielt, hat zwar formal viel zu singen, kann es nur nicht. Dem Tenor gelingt es zunächst, heldenhafte Töne hervorzubringen; im Verlauf des Stücks verliert jedoch die Stimme zunehmend an Kraft und Farbe. Besonders schade um die reumütige Kavatine im vierten Akt „Du pauvre seul ami fidèle“, in der die Stimme vollends versiegt.

Szenenbild aus „La Muette de Portici“
Szenenbild aus „La Muette de Portici“

Starker Chor, lebhaftes Orchester, schwächelnde Solisten

Auch Megan Marie Hart als Elvira findet in den Kadenzen ihrer Arien nur schwer zu überzeugenden Koloraturen. Tenor Ricardo Garcia kann indes mit wehleidiger Tenorfarbe einen überzeugend eitlen Alphonse zeichnen. Eine wohltuende Überraschung bietet Georg Festl, der mit voluminösem Bassbariton den Mitintriganten Pietro glaubhaft gestaltet.

Musikalisch tragen letztlich der von Alice Meregaglia sauber einstudierte Chor und das Staatsorchester Darmstadt unter Kapellmeister Johannes Zahn den Premierenabend. Zahn gelingt der komplexe Umgang mit dieser Produktion meisterhaft: Zum einen schafft er es, die vielen zähen Passagen der Partitur Aubers lebendig zu gestalten und dynamisch differenziert auszuarbeiten. Andererseits verlangen die zahlreichen versatzstückhaften Unterbrechungen und Perspektivwechsel der Inszenierung Ausdauer und Gestaltungswillen. Chor und Orchester sind die tragenden Säulen dieses gedankenreichen Szenarios, das – aufgrund seines zeitlosen Sujets – mit einer besser kuratierten Auswahl der Bilder, nur eines Themas, viel mehr Potential besäße.

Staatstheater Darmstadt
Auber: La Muette de Portici

Johannes Zahn (Leitung), Paul-Georg Dittrich (Regie), Sebastian Hannak (Bühne), Anna Rudolph (Kostüm), Marie-Luise Fieker & Heiko Steuernagel (Licht), Kai Wido Meyer (Video), Ricardo Di Lorenzo, David Kasperowski & Edith Haller (Live Kamera), Alice Meregaglia (Chor), Ricardo Garcia, Matthew Vickers, Megan Marie Hart, Franziska Dittrich, Lilith Maxion, Georg Festl, Opernchor und Extrachor des Staatstheater Darmstadt, Staatsorchester Darmstadt





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