In Kassel ist Regisseur Sebastian Baumgarten, Jahrgang1969, kein Unbekannter. Hier war er vor über zwanzig Jahren mit seinem radikal ästhetischen Zugriff auf heilige Opernkühe wie „Der Rosenkavalier“ (2000) und „Tosca“ (2001) aufgefallen. Von hier hatte er sich 2002 mit einem „Parsifal“ verabschiedet, der Furore machte und einen gesicherten Platz in der Rezeptionsgeschichte hat.
In Kassel hatte er bewiesen, dass prägende Lehrmeister wie Ruth Berghaus oder Peter Konwitschny etwas in Gang zu setzen vermögen, dessen Ergebnis den Vorbildern keineswegs äußerlich gleichen muss. Jetzt ist Baumgarten unter dem Intendanten Florian Lutz, der selbst ein jüngerer (Regie-)Bruder im Geiste ist und am Staatstheater Kassel u.a. mit einer ganz eigenen Programmatik und seinen Raumbühnenexperimenten an die ambitionierte Ära von Christoph Nix anknüpft, zurückgekehrt.
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Das doppelte „nach“
Mit einem „nach- nach“- Faust. Das erste nach steuerte Hector Berlioz selbst bei, als er sich mit seiner collagierten Szenenfolge auf Goethes Vorlage bezog. Er folgte vor allem seinem eigenen Stern, gleichwohl erkennt und erahnt man die Vorlage. Wenn oft auch nur von Ferne. Das zweite nach hat der Regisseur selbst vor dessen Titel „La damnation de Faust“ gesetzt. In Zeiten schnell reklamierter Überkorrektheit quasi sicherheitshalber. Die Hermetik von Texten, Partituren und Rezeptionstraditionen hat Baumgarten noch nie sonderlich interessiert. Ihm geht es stets um die Relevanz der Stücke für die Gegenwart, in der er und sein Publikum leben. Und so – um es mal mit einem verballhornten Hölderlin-Zitat zu sagen – erwartete man einiges (an Beigaben) und war gefasst, noch mehr (an passendem Fremdem) zu finden.
Allein: auch bei Baumgarten haben Erfahrung, imponierender Inszenierungsfleiß und Entdeckerfreude in allen Winkeln des Repertoires von Schauspiel und Oper den Instinkt für das rechte Maß geschärft. Wer wirklich nur auf ein Spiel mit dem Material gefasst war, bekam eine zwar gegenwarts- und zukunfts- (respektive Dystopie-)offene Version der „Légende-dramatique“, der „dramatischen Legende“, wie der Komponist es selbst nannte. Aber er bekam eben auch dessen faszinierende Musik. Auch die Zugaben an Elektronischer Musik von Stefan Schneider und gelegentliche Neuarrangements von Felix Linsmeier wirkten organisch, waren von der Atmosphäre inspiriert oder stärkten sie schlüssig.
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Ein erstklassiges Spitzentrio
Kiril Stankowwurde so seinem Titel als „erster koordinierter Kapellmeister“ als fabelhaft koordinierender Dirigent des Staatsorchestersin doppeltem Wortsinn gerecht. Sein Basisgeschäft waren natürlich die Berliozmusik, die er mit Verve zum Leuchten brachte, und die französische Eloquenz, mit der er faszinierte. Dabei hatte er stets die Protagonisten und den vonMarco Zeiser Celesti fabelhaft einstudierten Chor im Blick. Hinzu kommt das erstklassige Spitzentrio mit dem sattelfest strahlenden Eric Laporte als Faust, Filippo Bettoschials kernig diabolischem Méphistophélès und der intensiv leuchtenden Ilseyar KhayrullovaalsMarguerite. Don Lee ist der dazu passende Brandner.
Eine der Zufügungen sind die gelungenen gesprochenen Beiträge von Schauspielerin Annett Kruschke. Sie fügt als Ordonnanz ausstaffiert Textfragmente von Nikolaus Lenau über Wolfgang Borchert bis Alexander Kluge ein. Die unterstreichen den Blick auf Europa. Durch die Faust-Brille versteht sich. Und sie verlängern die Setzung des räumlich-optischen ins aphoristisch Gesprochene, ohne willkürlich verfremdend zu wirken.
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Adaption der Kasseler Raumbühne
Die offene, collagehafte Form des 1846 nur konzertant uraufgeführten Werkes ist wie für das moderne, ambitioniert interpretierende Theater gemacht. Gleichwohl evoziert der Raum und sein Assoziationspotenzial die Geschlossenheit einer gewissermaßen höheren Ordnung. Barbara Steinerhat für diese Projektion der Faustproblematik in eine dystopisch europäische Zukunft Teile der Kassler Raumbühne (die gegenwärtig der Name Antipolis ziert) adaptiert.
In den Zuschauerraum verlängert, treffen sich zwei Plattenbaufassaden, hinter Gerüstteilen der Raumbühnenkonstruktion. Da, wo sie sich treffen, beherrscht eine riesige Jurte auf der Drehbühne den Raum. Ihre offene Seite macht sie zu einem recht geräumigen Auerbachskeller, nebst Bühne für Marguerites Thule -Lied.
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Dunkel drohende Zukunft
Wenn gleich zu Beginn zum berühmten Rákóczi-Marsch Schwarzuniformierte ein Frauenpärchen jagen und voneinander wegzerren, wird klar, dass es bei der von der Ordonnanz beschworenen Reise um eine in die Finsternis Europas geht. Nichtmal in die seiner Geschichte – mehr in die einer drohenden Zukunft. Zunächst irrt Faust auf eigene Rechnung durch dieses düstere dystopische Nach-, Zwischen- oder Vorkriegseuropa. Hier schießt die Hölle ihre Opfer von Drohnen ferngesteuert ab. Hier unterschreibt Faust beim Teufel erst, als Gretchen nach dem Muttermord schon im Kerker sitzt. Hier darf man darauf wetten, dass am Ende das große Licht ausgeht.
Diesem Faust bei Berlioz und erst recht bei Baumgarten ist Goethes Trotz-alledem-Grundvertrauen in den suchenden bürgerlichen Menschen abhandengekommen. Möglichkeit von Beherrschung und von Zerstörung sind sich längst gefährlich nahegekommen. Sie trennt vielleicht nur noch die Hoffnung, die in der Kraft der Kunst liegt!? Von all dem erzählt dieser einhellig bejubelte Abend.
Staatstheater Kassel
Berlioz: Faust
Kiril Stankow (Leitung), Sebastian Baumgarten (Regie), Barbara Steiner (Bühne), Ines Burisch (Kostüme), Stefan Schneider (Elektronische Musik), Felix Linsmeier (Arrangement), Philipp Haupt (Video), Jürgen Kolb (Licht), Kornelius Paede (Dramaturgie), Marco Zeiser Celesti (Chor), Anne-Louise Bourion (Extrachor und Musikalische Assistenz), Eric Laporte, Ilseyar Khayrullova, Filippo Bettoschi, Don Lee, Annett Kruschke, Safet Mistele, Opernchor des Staatstheaters Kassel, Extrachor des Staatstheaters Kassel, Statisterie des Staatstheaters Kassel, Staatsorchester Kassel
Mi., 26. Februar 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Berlioz: La Damnation de Faust
Ilseyar Khayrullova (Marquerite), Eric Laporte (Faust), Filippo Bettoschi (Méphistophélès), Don Lee (Brander), Kiril Stankow (Leitung), Sebastian Baumgarten (Regie)
So., 09. März 2025 16:00 Uhr
Musiktheater
Berlioz: La Damnation de Faust
Ilseyar Khayrullova (Marquerite), Eric Laporte (Faust), Filippo Bettoschi (Méphistophélès), Don Lee (Brander), Kiril Stankow (Leitung), Sebastian Baumgarten (Regie)
Fr., 21. März 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Berlioz: La Damnation de Faust
Ilseyar Khayrullova (Marquerite), Eric Laporte (Faust), Filippo Bettoschi (Méphistophélès), Don Lee (Brander), Kiril Stankow (Leitung), Sebastian Baumgarten (Regie)
Sa., 29. März 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Berlioz: La Damnation de Faust
Ilseyar Khayrullova (Marquerite), Eric Laporte (Faust), Filippo Bettoschi (Méphistophélès), Don Lee (Brander), Kiril Stankow (Leitung), Sebastian Baumgarten (Regie)
Fr., 04. April 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Berlioz: La Damnation de Faust
Ilseyar Khayrullova (Marquerite), Eric Laporte (Faust), Filippo Bettoschi (Méphistophélès), Don Lee (Brander), Kiril Stankow (Leitung), Sebastian Baumgarten (Regie)