Startseite » Oper » Opern-Kritiken » Manche mögen‘s schrill

MUSICAL-KRITIK: Staatstheater Kassel – La Cage aux Folles

Manche mögen‘s schrill

(Kassel, 12.10.2024) Am Staatstheater Kassel lässt Regisseur Matthew Wild „La Cage aux Folles“ als Komödie mit Pointenperlenkette abschnurren.

vonRoberto Becker,

Wer sich entschließt, Jerry Hermans Musical „La Cage aux Folles“ („Ein Käfig voller Narren“) auf den Spielplan zu setzen, wie gerade am Staatstheater Kassel geschehen, der hat per se zweierlei im Sinn: einen Appell für Toleranz und pure Unterhaltung. Das Stück von Jean Poiret aus dem Jahre 1973 schreit geradezu nach Glitzer, Fummel und Travestie. Schließlich spielen die Herren als Damen im einschlägig frivolen Travestienachtclub die Hauptrolle und haben ihre großen Auftritte. Georges ist der Besitzer, der durchs Programm führt. Sein (Lebens-) Partner Albin ist als Zaza der Star der Show. Und Jacob ist (mindestens) ihr Butler, besteht darauf, Zofe zu sein, und würde selbst gern in der Show mitspielen.

Glitzer, Fummel, Travestie

Wobei der familiäre Backstage-Bereich des Etablissements in Saint-Tropez sowieso der eigentliche Ort des Geschehens, der eskalierenden Konflikte und ihrer Lösung ist. Da gibt es nämlich noch Georges gemeinsam mit Albin aufgezogenen Sohn Jean-Michel. Der ist mittlerweile 24 Jahre alt und will Anne heiraten. Das Problem daran sind die Eltern seiner Braut. Der Vater, Edouard Dindon, ist ein erzkonservativer Politiker, den schon das Interieur der Wohnung von Georges und Albin aus der Fassung bringen würde. Dass Jean Michel in einem Anflug von etwas feiger Inkonsequenz dem künftigen Schwiegervater eine intakte heteronormative Familie vorgaukeln will, wird zum Auslöser für das Durchstarten der Komödie.

Szenenbild zu „La Cage aux Folles“
Szenenbild aus „La Cage aux Folles“

Männlichkeitsklischees werden weidlich durch den Komödienkakao gezogen

Um wenigstens als Onkel beim gemeinsamen Abendessen mit dabei zu sein, wird zuerst der jedem Schwulenklischee von annodazumal entsprechende Albin in einer kollektiven Anstrengung auf „Mann“ umgepolt. Eine weidlich genutzte Möglichkeit, gleich noch diverse Männlichkeitsklischees durch den Komödienkakao zu ziehen. Als die eingeladene, leibliche Mutter Jean Michels absagt, hat Albin als Mutter seinen großen Auftritt. So wie die sprichwörtliche Tante Charleys funktioniert (auch in Kassel) Jean Michels Mutter ganz fabelhaft. Es kommt, wie es kommen muss: Jacob lässt den Braten verkohlen, man zieht in großer Familienformation ins Restaurant zur befreundeten Jaqueline um. Da die die Maskerade nicht gleich durchschaut, animiert sie Zaza zu einem kleinen Auftritt, bei dem die sich am Ende vor lauter Euphorie die Perücke vom Kopf reist und so selbst enttarnt. Den großen Skandal für den Politiker vermeiden sie am Ende gemeinsam dadurch, dass der sich zur Tarnung in Frauenkleidern ins große Finale einfügt.

Szenenbild zu „La Cage aux Folles“
Szenenbild aus „La Cage aux Folles“

Der Südafrikaner Matthew Wild ist als Regisseur für diesen Hit prädestiniert.

Am Ende denkt man sich: Wenn‘s denn so einfach wäre, die Rollback-Apologeten auf den rechten Weg der Toleranz zu führen. Als Musical ist „La Cage aux Folles“ seit seiner Broadway -Uraufführung von 1983 schnell auch in Europa zum Kult avanciert. Nicht nur an den revueaffinen Bühnen der Metropolen. Es ist längst auch stadttheaterkompatibel. Dass man im experimentierfreudigen Staatstheater Kassel den Südafrikaner Matthew Wild als Regisseur für diesen Hit eingeladen hat, verwundert nicht. Seine Frankfurter „Tannhäuser“-Inszenierung vom April dieses Jahres prädestiniert ihn geradezu für diese Aufgabe. In Frankfurt hatte er aus Wagners Sänger einen schwulen Erfolgsautor gemacht, der in die USA emigriert war und den die Reaktion auf sein Outing in den bigotten 50er Jahren dort in den Selbstmord trieb.

Anzeige

Kleine Übergriffe aufs Publikum

Aber weder Wild, noch der mit seinen diversen Raumbühnen Furore machende Bühnenbildner Sebastian Hannak oder Connor Murphy (Kostüme) weichen diesmal vom eher brav beschrittenen Pfad eine Komödie mit Pointenperlenkette ab. Und damit natürlich auch nicht vom stückimmanenten Plädoyer für ein nur leicht variiertes konservatives Familienbild. Inklusive kleiner Übergriffe aufs Publikum. Alles mit jeder Menge Glitzer und Federboa. Man zeigt und schwingt die Beine, man kichert und kreischt, man wirft sich in die Musiknummern und lässt sich Zeit für die besinnlichen Songs. In der deutschen Übersetzung von Martin G. Berger (der das Stück selbst schon in Basel inszeniert hat) wird komödienpassabel gesprochen.

Szenenbild zu „La Cage aux Folles“
Szenenbild aus „La Cage aux Folles“

Eine große Gaudi

Adrian Becker ist ein sympathisch schräger Albin, eine hinreißend aufdrehende Zaza und eine höchstsouveräne Frau Mutter. Mit einem Georges an seiner Seite, den Livio Cecini mit einer überzeugenden Dosis des souveränen Pragmatismus eines gewieften Nachtclubbetreibers ausstattet. Fausto Israel ist als Jacob eine hysterische Wucht und erinnert gelegentlich an eine Josephine Baker-Imitation. Die weiblichen und männlichen Damen des Nachtclubs sind eine von Louisa Talbot choreografierte Truppe mit Hang zum Conchita-Wurst-Look. Bei Merlin Fargels Jean Michel kommt die Ausladung Albins für den Abend des Besuches seiner künftigen Schwiegereltern als Verrat an seinem bisherigen Leben eine Spur zu leichthändig, während seine große Entschuldigung dann etwas arg gefühlig gerät. Darauf, den Politiker Dindon (Bernhard Modes) als Westentaschen-Schwulenfeind von heute kenntlich zu machen, verzichtet die Inszenierung. Denken muss man sich seinen Teil zu der Gaudi schon selbst. Dass es das Publikum am Ende ziemlich schnell aus den Sitzen riss, lag wohl auch daran, dass Peter Schedding mit dem Staatsorchester Kassel von Anfang an für eine gehörige Portion Esprit sorgte.

Staatstheater Kassel
Herman: La Cages aux Folles

Peter Schedding (Leitung), Matthew Wild (Regie), Louisa Talbot (Choreografie), Sebastian Hannak (Bühne), Conor Murphy (Kotüme), Christian Franzen (Licht), Felix Linsmeier (Dramaturgie), Adrian Becker, Livio Cecini, Merlin Fargel, Fausto Israel, Leonie Dietrich, Bernhard Modes, Ingrid Frøseth, Janina Steinbach, Clara Hendel, Melissa Laurenzia Peters, Maximilian Aschenbrenner, Leopold Lachnit, Thiago Fayad, Clara Hendel, Giovanni Corrado, Lena Poppe, Leander Bertholdt, Clara Schönberner, Philipp Faustmann, Lena Poppe, Leander Bertholdt, Clara Schönberner, Philipp Faustmann, Bernhard Modes, Ingrid Frøseth, Camilla Colonna, Janina Steinbach, Staatsorchester Kassel






Auch interessant

Rezensionen

Anzeige
  • Singender Erzähler und erzählender Sänger: Julian Prégardien
    Blind gehört Julian Prégardien

    „Das holt mich nicht ab“

    Tenor Julian Prégardien hört und kommentiert Aufnahmen von Kollegen, ohne dass er weiß, wer singt.

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!

Anzeige