Sie nennen es „Ent-Heiligen“. Hendrik Müller und Marc Weeger holen gern die von Vätern, Tyrannen und Liebhabern an den Rand des Nervenzusammenbruchs gebrachten Opernfiguren des 19. Jahrhunderts vom Sockel. Am Staatstheater Meiningen gab es eine für solche Großtateine tolle Gelegenheit. Mit der Seelengefährtin von Franz von Assisi hat die „Santa Chiara“ des komponierenden Herzogs Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha (1818-1893) und der für ihre dramatisierten Romane und viele Schauspiel-Hits bekannten Charlotte Birch-Pfeiffer allerdings nichts zu tun. Vielmehr handelt es sich bei dieser großen Oper um die Adaption einer Legende des Bestseller-Autors Heinrich Zschokke: Charlotte Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel sei nach ihrem (vermeintlichen) Tod 1715 im Alter von nur 21 Jahren und der unglücklichen Ehe mit dem später von seinem Vater Peter dem Großen hingerichteten Zarewitsch Alexej nicht beerdigt worden, sondern inkognito nach Amerika geflohen.
Ein satter Stoff also für den Zeitgeschmack vor 1850 und die versierte Charlotte Birch-Pfeiffer, bei der sogar Meyerbeer regelmäßig um dramaturgischen Rat anklopfte. In „Santa Chiara“ reihen sich die mit allen Züchten und Poesiealbum-Reimen dargestellte Sympathie Charlotte Christines zum französischen Viktor de St. Auban, intensive Klageszenen um die lebendig Eingesargte sowie deren Erhöhung zur italienischen Volksheiligen mit pittoreskem Lokalkolorit. Ein gut gebautes Stück mit feinen Reizmomenten.
Adeliger Komponist
Wie sein Vetter Georg, der Meininger Theaterherzog Georg II., der Sinfoniker Fürst Heinrich XXIV. Reuß zu Köstritz und der Dramaturg Heinrich XLV. vom Fürstenhaus Reuß in Gera gehörte Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha zum überaus kunstsinnigen Adel in den Kleinstaaten des heutigen Thüringen. „Santa Chiara“ war die vierte von fünf Opern des bei der Deutschen Reichsgründung 1871 von der Regierungsspitze favorisierten Herzogs. Dank geschickter Netzwerkarbeit brachte es „Santa Chiara“ nach positiven Beurteilungen von Liszt und Meyerbeer sogar zu Aufführungen in Paris und Brüssel. Vor 1900 erlebte das Werk im Bemühen um ein deutsches Standardrepertoire eine weitere Erfolgswelle, die erst 1927 im nach dem Zweiten Weltkrieg abgerissenen Gothaer Hoftheater verebbte. Ernst II. wusste überaus geschickt mit seinen zeitlichen und kreativen Ressourcen umzugehen. Richard Wagner lehnte das Angebot, „Santa Chiara“ zu instrumentieren, mit gespreizten Worten ab. Diese Aufgabe übernahm deshalb der Gothaer Musiker Traugott Krämer, welcher dem Herzog bereits bei dessen Oper „Diana von Solange“ als musikalischer Supervisor beigestanden hatte. Angelika Tasler hat die spannenden Hintergründe in ihrem Buch „Macht und Musik. Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha und das Musiktheater im 19. Jahrhundert“ fundiert dargestellt.
Sattes Opus zwischen Marschner und Meyerbeer
Düstere Streicher-Tremoli raunen Unheil in den ersten Takten. Die Chöre haben Ohrwurm-Qualitäten, sogar Christine Charlottes Vertraute Bertha von Blankensee (bravourös: Marianne Schechtel) erhielt reichlich Melodien. Später quält Zarewitsch Alexej seine Gattin wie ein echter Donizetti-Schurke. Ernst II. kannte sich durch viele Hofbühnen-Besuche mit Rossini, Auber, Meyerbeer und Marschner aus. Natürlich könnte man diese 1854 in Gotha uraufgeführte Oper mit dem besseren Wissen der Nachgeborenen im sinfonischen Wagner-Stil zu Tode dirigieren. Aber nichts wäre falscher bei der genau zwischen „Lohengrin“ und Max Bruchs „Loreley“ entstandenen „Santa Chiara“. Die glänzend aufspielende Meininger Hofkapelle und GMD Philippe Bach lassen sich mit Lust und Freude auf die in Rücksicht auf das Publikum vielleicht zu stark gekürzte Oper ein. Die Musik bedient alle Erwartungen. Instrumente duettieren mit Stimmen, die höfischen Szenen haben Vorbilder bei Meyerbeer, und Ernst II. verfügt über musikdramatische Stoßkraft. Philippe Bach macht rhythmische Begleitfiguren hörbar, wie sie Verdi erst ab „Luisa Miller“ und damit wesentlich später zu einem seiner Markenzeichen machen wird. „Santa Chiara“ glänzt, ist eingängig und bedeutet für Opern-Enthusiasten schon deshalb ein Muss, weil die Gelegenheiten zum Kennenlernen eines deutschen bühnenwirksamen Wagner-Zeitgenossen überaus spärlich sind.
Tyrannische Eleganz
Hendrik Müller und Marc Weeger überhöhten das Sujet mit optimierender Ironie und verspielter Exaltation, der Katharina Heistinger textile Glanzlichter aufsteckte. Im Hintergrund verrät ein Wandgemälde, wie sich Charlotte Christine selbst sieht: Als gedemütigte und um so strahlender rehabilitierte Genoveva – Heilige und Herrscherin! Schon in der ersten Viertelstunde zeigt sich, dass zwischen ihren leidenden Posen und Charlotte Christines Wille zur Macht doch geringfügige Unterschiede bestehen. Die roten Wände ihres Palais und das riesige Bett, auf dem sie aus Mangel an physischer Fürstenliebe ihren riesigen Teddy mit Küssen und Umarmungen malträtiert, könnte das Meininger Staatstheater sofort an Netflix für’s nächste Adelsepos verscherbeln. Brillanten glitzern mit dem Lächeln der Gesellschaftshyänen und den von Manuel Bethe flott getrimmten Chorstimmen um die Wette. Der den Ton angebenden Romanow-Mischpoke möchte man aber keineswegs zu nahekommen. Wenn Zarewitsch Alexej seine die im 19. Jahrhundert sonst meist Frauenfiguren zugedachte Wahnsinnsarie beginnt, entdeckt er wie Kaiser Nero seine frauliche Seite und rammt seinem tätowierten Betthäschen den Dolch in den Unterleib.
Genderfluide Bräute und Himmelsbräute
Mit solchen Akzenten strukturiert die szenische Seite Topoi des 19. Jahrhunderts, unterfüttert damit die knallige Opulenz sinnlich und sinnfällig. Also gerät die Frisur des galanten Viktor de St. Auban fast noch höher als Patrick Vogels schmetternde und beseelte Spitzentöne. Bei den Frauen, beim kernig hellen Bariton von Johannes Mooser als Tyrann Alexej sowie den mit Rafael Helbig-Kostka, Tomasz Wija und Mikko Järviluoto besetzten Nebenpartien fällt durchweg positiv eine pointierte, extrovertierte Art des Singens auf. Diese Musik strömt am Meininger Staatstheater mit vitaler Energie. Der dritte Akt gerät zur mit Szenenapplaus belohnten Überraschung. Da wird Charlotte Christine zur Rudelführerin der weißen m/w/d-Bräute vom Orden der geschlechtlichen Dreifaltigkeit. Winzertanz und Chorgebet fanden später sogar Aufnahme in Militärmusik-Anthologien, was die fünfzig Jahre andauernde Popularität von „Santa Chiara“ bestätigt.
Heiligkeit als Karrierekalkül
Die Prinzessin Charlotte Christine wird nach ihrer Senta im Meininger „Holländer“ der nächste Bombenerfolg von Lena Kutzner. Sie sollte – so wie sie diese Figur singt – noch eine Zeitlang bei italienischen Extrempartien bleiben. Bezeichnenderweise fallen Charlotte Christines Heulbojen-Strophen lakonischer aus als von Ernst II. vorgesehen. Kutzner singt wie viele ihrer Sopran-Kolleginnen Mörderinnen lieber als Opferlämmer. Man hört von ihr, dass es um Heiligkeit als Karrierekalkül und nicht um die Belcanto-Party einer schönen Seele geht. Bei ihrer großen Cabaletta hätte das Team schon deshalb nicht den Rotstift ansetzen dürfen, weil nicht einmal Charlotte Christines schöner Viktor am Ende an ihre Seite darf, sondern sich mit Schleier in die Fan-Eskorte reiht. Das zum Teil von weit her angereiste Publikum jubelte über etwas, was man weltweit derzeit nur in Meiningen erleben kann. „Santa Chiara“ ist die aufregendste mitteldeutsche Opernentdeckung aus dem 19. Jahrhundert seit Franz Liszts „Sardanapalo“-Fragment in Weimar 2018. What’s next?
Deutschlandfunk Kultur überträgt eine Aufzeichnung von „Santa Chiara“ am 2. April 2022, 19:00 Uhr.
Staatstheater Meiningen
Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha: Santa Chiara
Philippe Bach (Leitung), Hendrik Müller (Regie), Marc Weeger (Bühne), Kostüme (Katharina Heistinger), Manuel Bethe (Chor), Lena Kutzner/ Deniz Yetim (Prinzessin Charlotte Christine),Marianne Schechtel (Bertha von Blankensee), Markus Petsch/ PatrickVogel (Victor de St. Auban), Johannes Mooser (Zarewitwsch Alexej), Rafael Helbig-Kostka (Aurelius), Tomasz Wija (Alphonse), Mikko Järviluoto (Archimandrit von Moskau), Anja Lenßen (Charlotte Stimme), Chor und Statisterie des Staatstheater Meiningen, Meininger Hofkapelle