Aufbrüllend und aktionsreich spielt man bei dieser Verdi-Produktion über Fassungsfragen hinweg. Deshalb erreichte die Lautstärke des Schlussbeifalls nach „Don Carlos“ nicht ganz die Power der künstlerischen Leistung. Im vollen Nürnberger Opernhaus dauert Giuseppe Verdis längste und stärkste Oper inklusive Pause nur drei Stunden und 34 Minuten. Möglich wurde das durch die Amputation zahlreicher Puzzleteile aus der hier verwendeten französischen Fassung von 1882, für die Giuseppe Verdi seinen Textdichter Camille du Locle 14 Jahre nach beider Probenkrach vor der Pariser Uraufführung 1867 um eine Revision des Librettos gebeten hatte. Diese Version bildete das Gerüst für die weitaus häufiger gespielte vieraktige Mailänder Fassung von 1884 und die Modena-Fassung von 1886. In Nürnberg verzichtete man auf das Ballett, den Maskentausch zwischen Elisabeth und Eboli sowie das Lacrymosa-Ensemble an Posas Leiche. Dafür setzte man auf einen Drive wie von aufheulenden Motoren, auf hyperdramatische Attacke und messerscharfe Kontraste. Die französische Sprache dient als Brems- und Kühlflüssigkeit gegen Überhitzung.
Mit dem goldenen Besen durchfegte Tragödie
Die in Nürnberg geliebte und gerade mit dem Opera Award 2019 des Magazins „Oper!“ als „Beste*r Dirigent*in“ 2019 ausgezeichnete Joana Mallwitz fegt mit ihrem als goldenen Besen genutzten Taktstock durch die Partitur, die sie aus der Perspektive von Verdis frühen Opern straff und gleißend angeht. Ihr mit der Staatsphilharmonie Nürnberg entfesselter Furor ist auch das Resultat von Präzision und Sorgfalt. Da ein besonders scharfes Trompetensignal, im Fontainebleau-Akt ein bemerkenswert schönes Klarinettensolo und immer wieder selten zu vernehmende Details aus den Mittelstimmen von Verdis an Berlioz geschulter Instrumentationsfinesse. Zu diesem orchestralen Sprengsatz hätte die italienische Übersetzung besser gepasst als das nur selten astreine Französisch des Ensembles. Durch die Entscheidung für die französische Sprache wird dabei deutlicher, dass die Handlung von „Don Carlos“ eine pausenlose Reihe von Etikette-Verstößen und Tabubrüchen darstellt. Höfische Konversationen zerfasern beim menschlichen Versagen des Despoten Philipp II., der die Braut des eigenen Sohnes ehelicht, und des Widerständlers Posa im Netz von Philanthropismus und Korruption. Der Zweck heiligt die Mittel: Dieses musikalische Überkochen wird nur möglich durch das Können und die enorme Präsenz der sich mit Hochdruck in die fünf Haupt- und alle kleineren Partien stürzenden Sänger.
Träumen im Unrechtssystem
„Schwächling“ ist das häufigste Wort in Jens-Daniel Herzogs Regiekonzept. Diese Sicht ist zwar brutal, aber nicht eindimensional. Drei szenische Hauptstränge zieht Herzogs aus Verdis zwischen Grande Opéra und Dramma lirico oszillierender Privat- und Staatstragödie nach Vichard de Saint-Réals Nouvelle historique „Dom Carlos“ und Friedrich Schillers dramatischem Gedicht. Auf Kohärenz verzichtete Herzog mit dem Wissen, dass erzwungene Einheitlichkeit den Kosmos dieser Oper nur verkleinern könnte.
Don Carlos sitzt auf einem grünen Sessel wie auf der grünen Wiese
In den ersten beiden Stunden sitzt Infant Don Carlos auf einem grünen Sessel wie auf der grünen Wiese. Für ihn verfließen Grenzen des träumerischen Erinnern an das Glück mit seiner Ex-Braut und Ad-hoc-Stiefmutter Elisabeth zur Realität ständig. Er: Tadeusz Szlenkier, dessen strahlender Tenor weitaus besser zu Carlos‘ illusionärer Vergangenheit als zu den Herausforderungen einer brisanten Zukunft passt. Sie: Emily Newton ist blond nach dem Verständnis von heute, denn sie löst sich bravourös aus dem bei dieser Partie oft erlebten Dauerlamento. Elisabeth von Valois opfert sich selbstbestimmt, und ihr erotisches Interesse an Carlos ist keineswegs verglüht. Deshalb strahlt ihr Sopran noch bei den allertiefsten Kränkungen.
Tyrannenwillkür
Nach Carlos‘ schönen Visionen drehen Mathis Neidhardts Wände vom klinischen Weiß zu dem abweisenden Braun der königlichen Schaltzentralen. Erst zerren Prinzessin Eboli und die Hofdamen dem Pagen Thibault die Hosen vom Leib, wenig später liquidieren Palatine Philipps II. die Gräfin d’Aremberg. Den Dolchstoß in den Rücken seines Kurzzeit-Favoriten Posa, dem Sangmin Lee eine faszinierende Gesangs- und Bühnenleistung widmet, besorgt Philipp II. selbst. Sich ausweitende Blutflecken signalisieren oft Tyrannenwillkür auf Sibylle Gädekes zeitlos gegenwärtigen Kostümen.
Der König als leitender Buchhalter
Dem Despoten Philipp II. gilt des regieführenden Intendanten Aufmerksamkeit im zweiten Erzählstrang: Nicolai Karnolsky ist wie ein leitender Buchhalter, dem die Krone des krisengeschüttelten Imperiums zu groß wird. Seine Gunstbezeugung für Posa gleicht einer Erpressung vor Zeugen. Elisabeth ekelt sich vor den feuchten Küssen des ihr aufgezwungenen Mannes. Der von Nicolai Karnolsky mit fahlen und doch aufreizenden Farben gestaltete Monolog zeugt mehr von niedergezwungener Aggression als von nächtlicher Depression. Sein Gewaltpotenzial degradiert den Großinquisitor trotz Taras Konoshchenkos nachtschwarzem Totaleinsatz zur Nebenfigur.
Das Drama des benutzten Kindes
Perspektive Nummer Drei: Schon beim ersten Auftritt der durch die internationale Diplomatie zusammengepressten monarchischen Kleinfamilie zeigt sich die Kälte des mit allen greifbaren Waffen geführten Elternkriegs. Die bei Verdi gestrichene Infantin, mit der Philipp II. bei Schiller kurz spielt, wird zu einer stummen Hauptfigur. Ihr Alltag ist ein Schwanken zwischen Philipps halb strategischen, halb emotionalen Aufmerksamkeiten und Elisabeths weit geöffneten Armen. Ottilie Herzog balanciert zwischen den Verhaltensmustern Unschuldslamm und Kanaille. Die Infantin im Grundschulalter ist es hier, die Elisabeths Schmuckschatulle entwendet und mit eindeutiger Geste Carlos und Elisabeth ans Messer liefert.
Vitaler Pessimismus im Geschwindigkeitsrausch
Die flandrischen Deputierten, an deren Tötung sich Posa unter Zwang beteiligt, und Philipps Schergen haben mehr Bedeutung als der flach geführte Chor. Die als Karneval gefeierte Ketzerverbrennung und das Verschwinden der Massen im Nebel beim Aufstand nach Posas Tod geraten nur beiläufig. Martina Dike liefert als Eboli ein mit sinnlichem Appeal durchmessenes und ihrer machtvoll-strahlenden Arie gekröntes Rollenporträt. Melancholie wird in diesem „Don Carlos“ am Staatstheater Nürnberg durchgängig mit grellen Farben übermalt: Vitaler Pessimismus im Geschwindigkeitsrausch.
Staatstheater Nürnberg
Verdi: Don Carlos
GMD Joana Mallwitz (Leitung), Jens-Daniel Herzog (Regie), Mathis Neidhardt (Bühne), Sibylle Gädeke (Kostüme), Tarmo Vaask (Chor), Hans-Peter Frings, Georg Holzer (Dramaturgie), Ramses Sigl (Choreographie), Nicolai Karnolsky (Philipp II.), Emily Newton (Elisabeth von Valois), Tadeusz Szlenkier (Don Carlos), Martina Dike (Prinzessin Eboli), Sangmin Lee (Rodrigo, Marquis von Posa), John Pumphrey (Graf von Lerma), Emily Bradley (Thibault), Sergejev Nikolaev (Herold), Julia Grüter (Stimme von Oben), Taras Konoshchenko (Großinquisitor), Wonyong Kang (Mönch), Ottilie Herzog (Infantin), Chor und Extrachor des Staatstheaters Nürnberg, Staatsphilharmonie Nürnberg