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Opern-Kritik: Staatstheater Nürnberg – Eugen Onegin

Provinz, Poesie, Pathos

(Nürnberg, 16.11.2024) Die traurige Moral über die Unfähigkeit zum Glücklichsein geht in Armin Petras‘ hochspannender Inszenierung von Tschaikowskys „Eugen Onegin“ sehr zu Herzen.

vonRoland H. Dippel,

Derzeit ist die Oper des Staatstheaters Nürnberg auf einem exzellenten Höhenflug. „Pelléas et Mélisande“ von Operndirektor Jens-Daniel Herzog im Sommer, letzten Monat Goyo Monteros erste Opernregie mit „Die Zauberflöte“, jetzt der immens produktive Cottbuser Schauspielchef Armin Petras mit „Eugen Onegin“! Alle drei Inszenierungen beinhalten hochspannende Sichtweisen und eine satte musikalische Umsetzung, selbst wenn der letzte Kick zur Sternstunde fehlte. Dafür herrscht in Nürnberg eine beglückende Lebendigkeit, auch durch die sensible Aufmerksamkeit des Publikums.

Szenenbild aus „Eugen Onegin“ am Staatstheater Nürnberg
Szenenbild aus „Eugen Onegin“ am Staatstheater Nürnberg

Nürnbergs tolles Musiktheater-Ensemble

Das Musiktheater-Ensemble kann sich bestens hören und sehen lassen. Mit dem Gast Tetiana Miyus als facettenreicher Tatjana an der Spitze verbeugte sich am Ende eine für das vielschichtige Werk absolut stimmige Besetzung: Samuel Hasselhorn, der in Nürnberg im Eilschritt eine Traumpartie des Bariton-Fachs nach der anderen erhält, ist als Dandy Onegin in der etwas komplizierten Sommerfrische und als Verlierer ideal. Ebenso Sergei Nikolaev als schüchterner und gewinnend sympathischer Lenski mit einer Arie auf imponierend weicher Linie. Beiden ebenbürtig erhebt Corinna Scheurle Tatjanas Schwester Olga zur am Ende grob scheiternden Hauptfigur. Und Nicolai Karnolsky macht den Fürst Gremin in der Abwrackszenerie des Schlussaktes vom balsamischen zum Halbstarken-Bass. Ihn trifft am Ende eine Pistolenkugel in die Brust. Warum?

Petras und mit ihm alle stark geforderten Solisten zäumen Tschaikowskys 1879 uraufgeführte Oper von der literarischen Quelle – also dem 1833 erschienenen Roman in Versen von Alexander Puschkin – auf. Puschkin starb 1837 selbst in einem Duell. So wiederholt sich in Nürnberg die Duellmusik vor einem über den Sommer gelegten weißen Tuch. Wie Lenski an der Wunde aus Onegins Pistolenlauf stirbt auch Larinas Gutshaus mitsamt seiner pittoresken, aber porösen Idylle. In Nürnberg gibt es alles in Pastellfarben: Die Baumansichten, das Blumenbeet und natürlich den Ball mit dem Eklat zu Tatjanas Namenstag. Diese Szene stürzt von einer Champagneroperette in die Provinzposse.

Szenenbild aus „Eugen Onegin“ am Staatstheater Nürnberg
Szenenbild aus „Eugen Onegin“ am Staatstheater Nürnberg

Puschkins Promenade durch Tschaikowskys Oper

„Wie hätte der 42 Jahre vor Entstehung der Oper gestorbene Nationaldichter und Schöpfer der russischen Literatursprache auf Tschaikowskys emotionale Ent-Ironisierung reagiert?“, fragt Armin Petras und gibt die Antwort mit der Schauspielerin Stephanie Leue. Diese schreitet als Puschkin mit wirrer Frisur und wildem Blick durch den von ihm selbst erfundenen Figurenpark in Tschaikowskys Aufbereitung. Puschkin trommelt sich mit den Fäusten an den Schädel. Er bestätigt, zeigt sich gebannt und empört. Mit dem dritten Akt, in dem Tschaikowskys brillante Tänze einen verlogen sinfonischen urbanen Touch haben, bricht Petras aus seinem ambitionierten wie hübsch anzusehenden Ambiente aus. An einem Club und daneben der Bushaltestelle mit verdreckten Scheiben ist die neue Zeit nach 1989 auch für den zum Clochard werdenden Nationaldichter Russlands schlecht. Drastischer noch gerät in dieser Lesart Puschkins Leitgedanke, dass mit einem nüchternen Leben bestraft wird, wer sein Glück nicht im einzig richtigen Moment zu halten weiß. So entscheidet sich Tatjana für das marodierende Dolce vita mit rollenden Rubeln – gegen den sich trotz innerer Vereinsamung ganz gut haltenden Onegin.

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Szenenbild aus „Eugen Onegin“ am Staatstheater Nürnberg
Szenenbild aus „Eugen Onegin“ am Staatstheater Nürnberg

Eine Hymne auf die Sinnlichkeit des Schreibens

Julian Marbach bebildert mit Puschkinscher Doppelbödigkeit den schönen Schein, aber auch die knallharte Satire hinter dessen schönen Worten. Die blumig und brav wirkenden Materialien mit einer Projektionstafel für Texte spiegeln eine Rezeptionsgeschichte, welche in Russland immer wieder Entscheidendes verdrängt. Absolut sinnfällig: Das Publikum erfährt alle wesentlichen Unterschiede zwischen Versroman und Oper an den betreffenden Stellen. Das betrifft vor allem Tetiana Miyus als Tatjana. Wie es sein soll, schmökert sie in sentimentalen Romanen, wirkt aber auch leicht pummelig. Erst in der Briefszene wächst Tatjana in der Sinnlichkeit des Schreibens zu jener vertrauten scheuen Emotionen-Heroine, die sie bei Puschkin nicht ist. Vom Eklat beim Ball beamt sich Tatjana hinter einem Geschenke-Schutzwall mit Sahnetorte weg und kommt im verkorksten urbanen Flair als Schöne der Nacht in Leggins und rotem Schlitzkleid wieder. Tetiana Milus überstrahlt die Provinz und den Psychoporno mit leuchtender Emotion und Wärme. Ihre imponierend gesungene und gestaltete Briefszene ist nicht nur Moment des unbedachten Überschwangs, sondern auch eine Hymne auf die Sinnlichkeit des Schreibens. Als Höhepunkt der Oper muss er auch deshalb stehen, weil es Puschkin und dem schwulen Tschaikowsky vor allem um die Figur der Tatjana ging. Patricia Talackos Kostüme und Teresa Rotembergs Choreografie arbeiten der leicht konfusen, aber gerade deshalb bestechenden Konzeptleistung gut zu.

Szenenbild aus „Eugen Onegin“ am Staatstheater Nürnberg
Szenenbild aus „Eugen Onegin“ am Staatstheater Nürnberg

Die Regie greift facettenreich nach Puschkins Mehrdeutigkeit

Das Gedachte funktioniert alles, selbst wenn hier einige Ansichten aus meisterhaften mit messerscharfer Psychologie an „Eugen Onegin“ arbeitenden Regiearbeiten der letzten Jahre zunichte werden. Nach vielen Subtextrecherchen am Libretto Konstantin Schilowskys und Tschaikowsky Musik zur tatsächlichen Beziehungsdynamik zwischen Onegin und Lenski ist sie zudem erfrischend heterosexuell. Im dritten Akt stellt Petras eine zweite wesentliche Weisheit in den Vordergrund: Im Leben begegnet man sich immer zweimal – aber das ist nicht unbedingt gut.

Szenenbild aus „Eugen Onegin“ am Staatstheater Nürnberg
Szenenbild aus „Eugen Onegin“ am Staatstheater Nürnberg

Glanz und Transparenz

Bis zu den kleinen Partien erfreut die Nürnberger Premiere mit passgenauen Besetzungen: Stefanie Schaefer ist die erwartungsgemäß sensitive Biedermeiermatrone Larina. Almerija Delic – schon stark als Tatjanas Kinderfrau Filipjewna – gibt eine Einlage als strenge Dozentin einer Tabledance-Akademie. Youngseon Song steigert die Couplets des Triquet zur schwebend großen Romanze bis zum scheuen Szenenapplaus. Der sich bei Tschaikowsky bestens fühlende Chor stürzt sich als Landvolk in Detailansichten zur Arbeitsfron, gibt später flotte Genreszenen als Ballgesellschaft und Party People. Eine emotional griffige, elegant bewegte und strahlende Leistung bringt die Staatsphilharmonie Nürnberg unter Jan Croonenbroeck. Die instrumentalen Linien leuchten mit den Gesangstimmen. Glanz und Transparenz fügen sich zu einem Tschaikowsky-Klang, der „Eugen Onegin“ das so oft implantierte Morbide verweigert. Trotz der traurigen Moral über die Unfähigkeit zum Glücklichsein bewegen sich die Figuren in Nürnberg mit bemerkenswerter Vitalität. Das ist keineswegs falsch und äußerst realistisch. Der Schlussapplaus dauerte 15 Minuten.

Staatstheater Nürnberg
Tschaikowsky: Eugen Onegin

Jan Croonenbroeck (Leitung), Armin Petras (Regie), Julian Marbach (Bühne, Video-Animationen), Patricia Talacko (Kostüme), Teresa Rotemberg (Choreografie), Maria Tomoiaga (Video), Tarmo Vaask (Chor), Norman Plate-Narr (Licht), Georg Holzer (Dramaturgie), Stefanie Schaefer, Tetiana Miyus, Corinna Scheurle, Almerija Delic, Samuel Hasselhorn, Sergei Nikolaev, Nicolai Karnolsky, Julian Acht, Yongseung Song, Stephanie Leue, Emanoel Velozo, Chor des Staatstheater Nürnberg, Statisterie des Staatstheater Nürnberg, Staatsphilharmonie Nürnberg






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