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Opern-Kritik: Staatstheater Wiesbaden – Le Grand Macabre

Tableau vivant der Verrückten und Entrückten

(Wiesbaden, 28.9.2024) Mit „Le Grand Macabre“ debütiert Leo McFall am Staatstheater als neuer GMD. Mit klarem Dirigat grundiert er die impressionsreich choreografierte Inszenierung Pinar Karabuluts.

vonPatrick Erb,

Künstlich blaue Cupcakes, giftgrüne Getränke, Blumen und viel charmantes aber dennoch überzeichnetes Dekor: Zur Spielzeiteröffnung deckte das Hessische Staatstheater Wiesbaden zwischen den Kolonnaden des Haupthauses eine lange Tafel für die Premierengäste. Diese durften dann eine Stunde vor Beginn von Györgi Ligetis „Le Grand Macabre“ gemeinsam mit den Darstellern auf den Weltuntergang warten. Das neue Intendantenduo am Haus, Dorothea Hartmann und Beate Heine, feierten ihre nun beginnende Dienstzeit gleich mit, schnitten eine große Torte an und verteilten sie unter den Gästen – man möchte ja nicht ungestärkt der größten aller Katastrophen entgegenblicken.

Bühnenbild mit Handlungsspielraum

Anders als die pittoreske Tafel vor dem Staatstheater, ist Jo Schramms Bühnenbild zum Stück aufgeräumt und legt Wert auf die Präsentation der Darsteller. Eine kreisrunde Platte, bestehend aus ineinander verschränkten Dreiecken, neigt sich dem Publikum entgegen. Darüber hängt und rotiert ein monumentaler konisch sich verjüngender Zylinder, dessen gläsern wirkende Elemente in öligen Grün- und Blautönen das Licht reflektieren. Mag der Zylinder nun als Fernrohr des Hofastronomen Astradamors dienen oder an die schematische Raumkrümmung eines schweren Himmelskörpers, eines gewaltigen Kometen, erinnern – er ist ein in seiner Ästhetik treffender physischer Kommentar zu Ligetis Musik, die sowohl gravitätische Leere als auch fein geätzte Rhythmik in sich vereint.

Szenenbild aus „Le Grand Macabre“
Szenenbild aus „Le Grand Macabre“

Darsteller unter dem Mikroskop

Wichtigstes Verdienst des Konzepts von Pinar Karabulut ist der Positionstausch von Bühne und Orchester. Was zuletzt an der Hamburgischen Staatsoper in Calixto Bietos Inszenierung von „Trionfi“ konzeptionell teilweise förderlich, für ein rhythmisch präzises Dirigat, jedoch kontraproduktiv war, gelingt der Regie in Wiesbaden. Ob Zähnefletschen, verträumte Blicke oder gar erotische Anspielungen: Das Heranzoomen beseitigt die Unnahbarkeit der grotesken Figuren, kleinste Elemente werden sichtbar.

Der Zuschauer kann nicht nur die anspruchsvolle Symbiose aus Gesang und Slapstick besser verfolgen, sondern auch die komplexe Interaktion zwischen den Darstellern. Klug choreografiert macht Karabulut ihren „Le Grand Macabre“ zu einem modernen Gemälde im Stil Pieter Breughels – ein facettenreiches, stark bewegtes Wimmelbild der Verrückten und Entrückten, ein Tableau vivant, dessen vielfältiger Humor nach nur einer Vorstellung kaum zu fassen ist.

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Szenenbild aus „Le Grand Macabre“
Szenenbild aus „Le Grand Macabre“

Gelungener Dirigenteneinstand

Dem Impressionsreichtum der ebenso mit Witz und Zitaten angereicherten Musik Ligetis begegnet Dirigent Leo McFall, der mit der Premiere zu „Le Grand Macabre“ als Generalmusikdirektor in Wiesbaden auch sein Debüt feiert, mit präziser Klarheit und kreativer Akzentuierung. Sachlich grundiert das Hessische Staatsorchester das aufregende Bühnengeschehen überraschend gravitätisch, aber dennoch treffend. Durch die orchestrale Schwere verlieren sich die illustren Hupen-, Cembalo- aber auch klassischen Orchesterklänge nicht in plakativer Selbstgefälligkeit, sie sind immer Mittel zum Zweck.

Warum Ligeti selbst „Le Grand Macabre“ mit trockenem Humor als „Anti-Anti-Oper“ bezeichnete, zeigt sich an den Gesangspartien, die zwischen Barockoper und modernem Musiktheater wechselnd, vor allem das große Operngeschehen des 19. Jahrhunderts auszublenden wissen. Das zeigt Seth Carico als Nekrotzar wie kein zweiter: Zwischen Falsett und Sprechgesang in Normalstimmlage wechselnd, schauspielt sich der Bass-Bariton wahnsinnig mäandernd durchs Stück. Gemeinsam mit Piet vom Fass (nicht minder schauspielerisch gereift: Cornel Frey) durchlebt er herrlich naiv ein Weltuntergangsabenteuer auf Grundschuljungenniveau.

Szenenbild aus „Le Grand Macabre“
Szenenbild aus „Le Grand Macabre“

Josefine Mindus überzeugt als Chef(in) der Gepopo mit ironisch hämmernder Koloratur und das Liebespaar Amanda und Amando (sopranätherisch: Inna Fedoril & Fleuranne Brockway) erzeugen gekonnt die komische Illusion sirenenhaften Belcantos – die Sängerliste ist lang. Und so zeigt sich schließlich anhand aller Darsteller des Staatstheaters Wiesbaden die wichtigste Eigenschaft des Werks: In „Le Grand Macabre“ ist kein Platz für Nebenrollen.

Staatstheater Wiesbaden
Ligeti: Le Grand Macabre

Leo McFall (Leitung), Pinar Karabulut (Regie), Jo Schramm (Bühne), Teresa Vergho (Kostüme), Oliver Porst (Licht), Albert Horne (Chor), Katja Leclerc (Dramaturgie), Seth Carico, Cornel Frey, Galina Benevich, Josefine Mindus, Sion Goronwy, Ariana Lucas, Inna Fedorii, Fleuranne Brockway, Chor- und Statisterie des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden, Hessisches Staatsorchester Wiesbaden






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