Damals war einiges besser? Das bedürfte der statistischen Überprüfung. Tatsache ist immerhin: Das Theater Bielefeld hat Martinůs Hauptwerk für die Musiktheaterbühne bereits kaum ein Jahr nach der Zürcher Uraufführung auf den Spielplan gesetzt. Und damit etwas geleistet, dessen heute selbst hochrangige Werke kaum sicher gehen dürfen: der Option auf Folgeproduktionen. Was da in der Spielzeit 1962/63 in der ostwestfälischen Kapitale auf die Bühne gelangte, hatte freilich mit Martinůs ursprünglicher Fassung nur bedingt zu schaffen. Wie auch! Der Tonsetzer hatte, nachdem Covent Garden – ausgedehnter Sprechpassagen halber – das Werk abgelehnt hatte, das Partiturautograf in Einzelseiten zerlegt und an Freunde verschenkt.
Erst 1999 gelangte „The Greek Passion“ in der Urfassung auf die Bühne der Bregenzer Festspiele. Seither arbeitet sich die einst verschmähte Version ins Repertoire vor. So auch in Bielefeld. Obschon dort der Sprechtext empfindlich eingestrichen ist. Etliches ist nachvollziehbar, manches nicht. Die komplette Tilgung der Erzählerfigur etwa befremdet. Gesungen wird trotz deutschen Titels in der englischen Originalsprache.

Beklemmende Bildlichkeit
Gleichwohl erwerben die Bielefelder Meriten. Nicht zuletzt szenische. Bühnenbildnerin Julia Katharina Berndt stellt ein hölzernes Gebäudeskelett auf die Bretter. Seine Überdeterminiertheit erweist sich als Vorteil. Die alteingesessenen Dörfler verwenden einen Teil ihrer Wohlhabenheit auf den Bau einer neuen Kirche. Hingegen gehen die Geflüchteten trotz Armut an die Errichtung eines Gotteshauses. Auch ins private Heim lässt sich die gerüsthafte Holzkonstruktion umwandeln. Frappant und erkenntnisstiftend die fließenden Übergänge: Nachdem die Witwe Katerina daheim das Osterlamm ausgeweidet hat, knüpft sie es kopfüber an einen Pfosten, der sich wenig später als zum Kirchengebäude gehörig zeigt.
Kongenial wie hier, entlockt Regisseur Manuel Schmitt der Holzkonstruktion noch weitere ins Gemüt greifende Hinweise, Anspielungen und Symbole. Kaum wurde Manolios durch den Ortsgeistlichen zum Christus des Passionsspiels bestimmt, fertigen die Dörfler ein Kreuz aus dem Bauholz für ihre Kirche. Später wird Jesu Annagelung geprobt. Nach des Hirten Ermordung fügt sich der blutige Pfosten für das ausgeweidete Osterlamm als Kreuzesbalken in Christi Marterholz. Indessen schiebt Regisseur Schmitt Manolios‘ fragwürdige Eigenschaften eher auf die Seite. Der Sohn Gottes, in den sich der Wanderprediger aus Galiläa verkörpert sah, lehnte im geraden Gegensatz zum griechischen Hirten Gewalt – selbst im Dienst der gerechten Sache – strikt ab.

Erhellend jedoch, wie Schmitt im Verein mit Kostümbildnerin Carola Volles Alteingesessene und Geflüchtete bis zur äußerlichen Ununterscheidbarkeit sich einander annähern lässt. Selbst die Geistlichen tragen gleichen Ornat. Die Differenzen erwachsen aus der jeweiligen Mentalität. Reichtum, Stolz und Vorurteil auf der einen Seite. Hunger, Demütigung und Sehnsucht nach Erbarmen auf der anderen. In Martinůs Oper setzen einheimische Griechen Angehörigen der aus der Türkei vertriebenen griechischen Minderheit zu. Auf den Vorhang projizierte Texte belegen, wie Westdeutsche mit Landsleuten aus den ehemals deutschen Ostgebieten umsprangen. Kaum einen Deut besser.
Rettungsaktion nach der Pause
Musikalisch nehmen die Bielefelder nach Anlaufproblemen für sich ein. Bis zur Pause lässt sich für die Kollektive allerhand fürchten. Der Chor hadert mit Intonationsproblemen. Offenbar überträgt sich die Deftigkeit des holzverarbeitenden Gewerbes beim Kirchbau auf der Bühne zu den Bielefelder Philharmonikern im Graben. Während der Pause gilt es daher nach Formulierungen für zugleich wertschätzende, aber deutliche Einwände zu suchen. Doch, als sei synchron zu solchen Überlegungen hinter der Bühne eine deutliche Ansage durch Chordirektor Hagen Enke, Kapellmeister Gregor Rot oder wen auch immer erfolgt, finden, nachdem sich der Vorhang wieder geöffnet hat, Chor und Extrachor zum präzisen Klangbild, die Bielefelder Philharmoniker zu reich abgestufter Dynamik.

Totaleinsatz beweisen die von Felicitas Jacobsen, Josy Petersen und Anna Janiszewska beflügelten JunOs, der Kinder- und Jugendchor des Hauses. Hinsichtlich der Nachwuchsförderung kann sich manches Theater eine Scheibe davon abschneiden. Für Manolios verfügt Christopher Diffey über einen Tenor, dessen Erfahrungen im jugendlichen Heldenfach dem Rollenportrait trefflich bekommen. Den Dorfgeistlichen Grigoris verkörpert Evgueniy Alexiev mit der Rolle angemessener, auch vokaler Brutalität. Als Fotis, den Seelsorger der Geflüchteten, setzt sich Yoshiaki Kimura stimmlich gleichermaßen durchschlagskräftig wie kultiviert für seine Gemeinde ein.
Indessen gebührt die Krone des Abends Alexandra Ionis mit ihrer Katerina der Extraklasse. Obschon riesig formatiert und bayreutherfahren, weiß Ionis‘ Mezzosopran mit der Akustik des nicht eben monumentalen Bielefelder Auditoriums umzugehen. Bei solcher vokalen Power würden manch‘ prominentere Kolleginnen den Saal – versehentlich oder vorsätzlich – zum Einsturz bringen. Als junge Witwe lebt sich Ionis in den ihr für das Passionsspiel zugewiesenen Part der Maria von Magdala ein, indem sie die vokal leidenschaftliche Glut schürt, bis die heilige Sünderin in hellen Liebesflammen steht. Ionis zählt zum Hausensemble.
Theater Bielefeld
Martinů: Die Griechische Passion (The Greek Passion)
Gregor Rot (Leitung), Manuel Schmitt (Regie), Julia Katharina Berndt (Bühne), Carola Volles (Kostüme), Johann Kaiser-Kranefoed (Licht), Katharina Mänz (Video), Hagen Enke (Chor), Felicitas Jacobsen, Josy Petersen, Anna Janiszewska (Einstudierung JunOs), Christopher Diffey, Alexandra Ionis, Lorin Wey, Yoshiaki Kimura, Evgueniy Alexiev, Mayan Goldenfeld, Cornelie Isenbürger, Andrei Skilarenko, Moon Soo Park, Aljoscha Lennert, Lutz Laible, Bryan Boyce, Andreas Elias Post, Giorgi Turabelidze, Daniel Alejandro Cobos Ortiz, Sophie Schwerthöffer, Patricia Forbes, Bielefelder Philharmoniker, Opernchor und Extrachor des Theater Bielefeld, JunOs in Kooperation mit der Musik- und Kunstschule Bielefeld
Fr., 02. Mai 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Martinů: Die griechische Passion
Gregor Rot (Leitung), Manuel Schmitt (Regie)
Do., 08. Mai 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Martinů: Die griechische Passion
Gregor Rot (Leitung), Manuel Schmitt (Regie)
Do., 15. Mai 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Martinů: Die griechische Passion
Gregor Rot (Leitung), Manuel Schmitt (Regie)
Sa., 24. Mai 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Martinů: Die griechische Passion
Gregor Rot (Leitung), Manuel Schmitt (Regie)
So., 01. Juni 2025 15:00 Uhr
Musiktheater
Martinů: Die griechische Passion
Gregor Rot (Leitung), Manuel Schmitt (Regie)