Frauenfiguren in der Oper entspringen in aller Regel den Gehirnen von Männern. Ja, sie gleichen Männerprojektionen, mögen sie nun als scheinbar starke und selbstbestimmte Femmes fatales daherkommen wie Carmen oder Salome oder aber als zartbesaitet versponnene Femmes fragiles wie Mimì oder Butterfly. Die Mythen des Musiktheaters jedenfalls sind fast allesamt männlich. Neue Lesarten durch das Umschreiben der Stoffe und entsprechende Perspektivwechsel sind somit, da angestammte Geschlechterrollen heute mehr und mehr in Frage gestellt werden, an der Zeit und betreffen längst nicht mehr nur die weiblichen Titelfiguren, sondern gerade auch Stoffe, in denen Männer zumindest offiziell das Geschehen dominieren.
Gemeinsam mit ihrer slowenischen Landsfrau Simona Semenič hat sich Nina Šenk daher nun mit „Canvas“ des legendären Frauenverführers Don Juan angenommen – und von ihm dann im Ergebnis radikal, also ganz ohne die „eigentliche“ männliche Hauptfigur erzählt: Stattdessen kreisen vier Frauen, die mitsammen denselben Mann lieben, umeinander wie um ihn – das unsichtbare Ziel ihrer Träume, Sehnsüchte und Ängste.
Im Libretto von Simona Semenič geht es mitunter auch deftig zur Sache
Der Titel ihres hoch intensiven Einstünders zielt mit „Canvas“ nun seinerseits auf eine Projektionsfläche, freilich ist dies eine, auf die jene Bilder fallen, die sich die Frauen von „ihm“, dem namenlosen Mann machen. „Canvas“ meint also jenes fest gewebte Stück Stoff, das sonst die Leinwand bildet, die hernach bemalt wird. Auf die nahezu leere Bühne des György-Ligeti-Saals des MUMUTH der Kunstuniversität Graz hat Katharina Zotter daher nur ein drehbares gleißend weißes Podest gestellt, auf dem die Sängerinnen von ihren Erfahrungen mit dem Ungenannten berichten, der dann durch ihre Stimmen, Gedanken, Gefühle und Körper hindurch nur imaginär in den Augen des Publikums auf dem Canvas erscheint. Im in englischer Sprache vertonten Libretto von Simona Semenič geht es dazu mitunter auch deftig zur Sache, zumal wenn vom – aus weiblicher Wahrnehmung – wohl wenig eindrucksvollen Phallus des nicht anwesenden Herren die Rede ist.
Bebend ruhiger innerer Monolog der erleidenden Frau
Zumindest einmal aber scheint die Librettistin dann doch in jene Falle zu tappen, die das weibliche Geschlecht einmal mehr in seine uralte Opferrolle (zurück-)drängt. „Sie“ (auch alle Frauenfiguren sind im Stück namenlos) muss „sein“ sexuelles Vergnügen aushalten, hoffend, dass es bald vorbei ist – hier wird offensichtlich, besser: offen hörbar von einer Vergewaltigung berichtet. Kennzeichnend für die grandiose Qualität der Komposition wie ihrer musikalisch-szenischen Realisierung ist nun aber, dass Nina Šenk ihrerseits nun nicht in die Falle tappt, des Mannes böse Lust illustrativ veristisch auszumalen.
Vielmehr wagt sie einen bebend ruhigen inneren Monolog der erleidenden Frau, der vom Publikum gerade keine direkt identifizierende Tränendrüsen-Anteilnahme einfordert, sondern vielmehr erst über den Umweg der Distanzierung zur tieferen Berührung führt. Nina Šenk, diese eminent kluge wie sensible Komponistin, versteht sich hier auf einen nachgerade dialektischen Zugriff, den Ingo Kerkhof in seiner Inszenierung entsprechend einfühlsam mitträgt. Choreographisch streng formal, fernab jeglichen Naturalismus agiert das singspielende Frauenensemble dazu, ohne dabei indes je ins abstrakt Ästhetisierende und dadurch die Härte der Auseinandersetzung Relativierende zu geraten.
Die Partitur ist von einer subkutanen, gut ausgehörten Sinnlichkeit
Von großer Reife zeugt die Wandlungsfähigkeit der Komponisten, die mit ihrer Musik die Haltung zu den Berichten der Frauen immer wieder variiert. Zu Beginn steigt aus dem Orchester die realistisch malende Geste von Sirenenheulen auf: Eine der Frauen, deren Sterben Anfang und Ende des nicht chronologisch gebauten Abends rahmt, wird ins Krankenhaus eingeliefert. Doch dieser klangmalerische Puccini– oder Brittenmoment hat nichts Eklektisches, er dient in der hohen Beherrschung ihrer kompositorischen Mittel eben einfach zur klaren Charakterisierung dieser Eingangsszene. Fasslichkeit scheint Nina Šenk aber auch hernach ein Anliegen zu sein, wenn sie die Träume einer der Frauen anhand des mehrfach wiederholten „beautiful“ mit dem Mut zur schönen Phrase von Flöte und Saxophon vermittelt.
Und doch wirkt die Komponistin in allem ganz authentisch bei sich zu sein, spürt den Seelenregungen ihrer Protagonistinnen subtil nach. Die Partitur ist von einer subkutanen, gut ausgehörten Sinnlichkeit, die sich auch ihrer Orchesterbesetzung verdankt. Einfach besetzte Holbläser dominieren das Klanggeschehen, fein abgemischt mit doppeltem Schlagwerk, Trompete, Posaune, Akkordeon sowie einfach besetzten Streichern. Verblüffend ist ihr Einsatz der Gesangsstimmen, der auf hohem handwerklichem Wissen basiert. Die Momente großer Schönheit kommen einem zeitgenössischen Belcanto nah, der stets nach Wahrheit strebt.
Ein Novum in der Musikhochschullandschaft: „Perfomance Practice in Contemporary Music“
Die jungen Sängerinnen folgen der kompositorischen Meisterin, Jahrgang 1982, und ihren Vorgaben mit Hingabe. Die vier Soprane, zwei Mezzi und die eine Altistin entstammen dem neuen Masterstudiengang der Kunstuniversität Graz, den der deutsche Bariton Holger Falk aufgebaut hat, als Professor leitet und der sich in „Performance Practice in Contemporary Music“ (PPCM) ganz auf Neue Musik fokussiert – ein echtes Novum in der deutschsprachigen Musikhochschullandschaft. Parallel betreut Dimitrios Polisoidos ein Programm der Instrumentalausbildung, das Studierende mit den speziellen Anforderungen vertraut macht, die zeitgenössische Musik stellt. Und so dirigiert Gerrit Prießnitz hier also ein perfekt präpariertes Instrumentalensemble, das allesamt aus virtuosen Überzeugungstätern zu bestehen scheint.
Versöhnung von Neuer Musik und Publikum
Die Uraufführung ist indes viel mehr als das Ergebnis herausragender Hochschularbeit. Denn Nina Šenk hat mit „Canvas“ das Preisträgerwerk des 8. Johann-Joseph-Fux-Opernkompositionswettbewerbs des Landes Steiermark aus der Taufe gehoben und nun im Rahmen des Festivals „ORF musikprotokoll“, der zeitgenössischen Spielwiese des Steirischen Herbst, herausgebracht. Gregor Pompe würdigte die Preisträgerin direkt nach der Uraufführung in einer profunden Laudatio. Der Musikwissenschaftler aus Ljubljana lobte Nina Šenk für ihren „sensiblen Pragmatismus“. Sie strebe nicht nach Innovation um jeden Preis, sondern setze die Tradition der mitteleuropäischen Moderne entschieden fort, versöhne mit ihrem Schaffen nicht zuletzt Neue Musik mit dem Publikum.
Eine Gratwanderung mit Risiken: Wenn Sängerinnen zu Mitschöpferinnen mutieren
Noch eine weitere entschiedene Annäherung wagt die Preisträgerin. Die sieben beteiligten Sängerinnen (Melis Demiray, Lavinia Husmann, Laure-Cathérine Beyers, Marija-Katarina Jukić, Ellen Rose Kelly, Christine Rainer und Ana Vidmar) interpretieren nicht einfach, was ihnen in Text und Musik vorgegeben ist. Sie werden zu Mitschöpferinnen im Kontext einer komplexen und im sonst so hierarchischen (ja, traditionell männlichen) Operngeschäft durchaus ungewöhnlichen demokratischen Stückentwicklung. Denn Regisseur Ingo Kerkhof hat sie im Probenprozess animiert, ihr Verständnis der „Rolle“ im Musiktheater ausdrücklich zu erweitern. Ihm geht es hier weniger um die klassische Einfühlung in die Emotionen einer vorgegebenen Figur, sondern um das Einbringen der eigenen Biographie.
Diese genuin künstlerisch kreative Arbeit im gemeinsamen Prozess scheint die Sängerinnen in dieser Produktion gleichsam befreit zu haben. Ihr Singen und Sprechen wirkt vollkommen glaubwürdig. Es lässt die Figuren und Spielerinnen verschmelzen – durchaus eine Gratwanderung mit Risikopotential, das der Professor in seiner Regie daher auch wieder bewusst bricht. Denn er doppelt die Frauenfiguren, was zumal bei der Sterbenden den angenehm antinaturalistischen Nebeneffekt hat, dass sie einerseits ihr Leiden spielt, es andererseits singend kommentiert – Singen und Darstellen sind demnach spätbrechtianisch auf zwei Personen aufgespaltet. Pädagogisch bedeutsam als lehrreicher Zusatznutzen: Die Damen mit derselben Rolle wechseln die Funktion und Perspektive von Vorstellung zu Vorstellung – schauen sich damit gewissermaßen auch selbst zu.
Steirischer Herbst / Kunstuniversität Graz
Šenk: Canvas (UA)
Gerrit Prießnitz (Leitung), Ingo Kerkhof (Regie), Katharina Zotter (Ausstattung), Holger Falk (Künstlerische Betreuung PPCM vokal), Dimitrios Polisoidos (Künstlerische Betreuung PPCM instrumental), Melis Demiray, Lavinia Husmann, Laure-Cathérine Beyers, Marija-Katarina Jukić, Ellen Rose Kelly, Christine Rainer, Ana Vidmar
Weitere Vorstellungen am 9.,10. & 11.10.2023