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Opern-Kritik: Teatro alla Scala Mailand – La Calisto

Nymphomaner Barock

(Mailand, 30.10.2021) Dank Christophe Rousset verströmt Franceco Cavallis Musik den Duft des Erotischen einer durchgeknallten Gesellschaft, in der Götter und Menschen in multiplen Verkleidungen übereinanderpurzeln. David McVicar setzt das Wunderwerk mit sehr viel Poesie in Szene.

vonPeter Krause,

In dieser Utopie einer erotischen Unschuld reimt sich gar „Melodia“ auf „Armonia“, mithin Melodie und Harmonie. Giovanni Faustini hat die Wunderworte dieses den „Metarmophosen“ des Ovid entlehnten mythologischen Liebeswirrwarrs ersonnen: Mitsammen gereimt sind seine herrlichen Verse, die sein Landsmann Francesco Cavalli in Musik gesetzt hat. Wer von der Wiederentdeckung des venezianischen Komponisten schwärmt, der muss seinen kongenialen Librettisten im selben Atemzug nennen. Denn hier war in den frühen Zeiten des Barock ein Dreamteam am Werk, das es mit den späteren schöpferischen Partnerschaften auf Augenhöhe zwischen Da Ponte und Mozart, zwischen Boito und Verdi, zwischen Hofmannsthal und Strauss ohne Umschweife aufnehmen kann.

Das war überfällig: Cavalli als Erstaufführung an der Scala

Während die Cavalli-Renaissance nördlich der Alpen seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts im Gange ist, muss man im Mutterland der Gattung Oper noch einige Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit leisten. Am berühmtesten Haus des Stiefelstaats, dem Teatro alla Scala, war „La Calisto“ bislang noch nie zu sehen gewesen. Die Premiere ist eine Erstaufführung. Das will man als aus dem Norden angereister Gast kaum glauben. Dominique Meyer, der als Intendant von der Wiener Staatsoper nach Mailand gewechselt ist, holt mutig nach, was überfällig erscheint: Endlich wird der legitime Nachfolger Claudio Monteverdis am ersten Haus des Landes angemessen gefeiert. Und siehe da: Die Scala strahlt im herbstlichen Regen wie sonst nur bei Verdi, der zur Eröffnung der nächsten Saison am 7. Dezember dann mit dem „Macbeth“ auf dem Programm stehen wird. Ein Triumph.

„La Calisto“ am Teatro alla Scala
„La Calisto“ am Teatro alla Scala

Dem Buchstaben oder dem Geist folgen?

Der Erfolg wollte freilich erarbeitet und errungen werden. Denn es braucht schon Antworten auf komplexe Fragen, wenn es an die Realisierung dieses Loblieds auf die Liebe, auf den Hedonimus, auf die Grenzüberschreitung geht. Neben dem Intendanten wichtigster Vater des Projekts ist Christophe Rousset. In besonderem Maße war der Dirigent und Cembalist hier als Forscher gefragt. Denn so einfach liegen die Dinge in Sachen historischer Aufführungspraxis hier mitnichten. Bei der Uraufführung von „La Calisto“ am 28. November 1651 im venezianischen Teatro Sant’Apollinare saßen gerade mal sechs Instrumentalisten vor der Bühne des gerade mal 400 Menschen fassenden Theaterchens. Die erhaltene Honorarliste der Aufführungen gibt Auskunft, dass Cavalli selbst vom Cembalo die musikalische Leitung innehatte und mit 40 Lire die vierfache Gage des zweiten Geigers und des Spielers der Theorbe erhielt. René Jabobs, dessen Einspielung des Werks als Referenz gilt, vervielfachte dann nicht nur den Streicherapparat, er fügte als farbliche Erweiterung auch allerhand Bläserstimmen hinzu und landete fast beim Vierfachen der ursprünglichen Orchesterbesetzung. Seine Devise lautete gleich einer fortschrittlichen Exegese der Bibel, nicht dem Buchstaben, sondern dem Geist zu folgen.

„La Calisto“ am Teatro alla Scala
„La Calisto“ am Teatro alla Scala

Christophe Rousset musste sich für seine Einstudierung am Teatro alla Scala nun den Anforderungen eines riesigen Opernhauses stellen, eine Anpassung, die sich indes direkt auf die Praktiken der Barockzeit stützen kann. Denn dessen Komponisten hielten ihre Werk eben nicht für sakrosant, sondern passten sie immer wieder an die neuen Kontexte einer Aufführung an: die Größe eines Theaters, die ökonomischen Möglichkeiten, die nicht zuletzt mit der Zahlungsbereitschaft der aristokratischen Auftraggeber oder der auf Gewinn abzielenden Impresarios zusammenhingen.

Roussets Cavalli-Klang will uns umarmen, er ist von warmer Opulenz und schmeichelnder Weichheit

So zielt nun auch Christophe Rousset auf den Geist des Werks – und trifft ihn traumwandlerisch. Er ist mit seinem Spezialensemble Les Talens Lyriques zu Gast im Graben der Scala und ergänzt seine eigenen Mitstreiter um Streicher des Scala-Orchesters, die auf historischen Instrumenten und hörbarer Expertise und Lust am Experiment zur Sache gehen. Rousset schafft einen Klangkörper wie aus einem Guss. Sein Cavalli-Klang will uns umarmen, er ist von warmer Opulenz und schmeichelnder Weichheit. Rein quantitativ liegt er sogar noch leicht über René Jabobs eher üppigem Gardemaß. Doch die reine Zahl sagt wenig. Roussets Cavalli erhält mit seiner deutlich erweiterten Continuo-Gruppe sowie Flöten und Zinken eine magische Präsenz im riesigen Logenhufeisen des Teatro alla Scala. Die melodiensatte, harmonisch anregende und fürwahr moderne „dolcezza estrema“ der Musik verströmt den Duft des Erotischen dieser durchgeknallten Gesellschaft, in der Götter und Menschen in multiplen Verkleidungen übereinanderpurzeln und anständige Grenzziehungen zwischen Geschlechtern und Ständen vergessen machen. Wirklich sublim ist einmal mehr, wie Roussets die Rezitative auskostet, wie er Cavallis Mischformen und wunderbar flexiblen Wechselbädern aus Recitar Cantando, Arien, volksnahen Liedern und Tänzen austariert. Der französische Maestro kostet jede Phrase liebevoll aus, schärft ihre harmonische Spannung, lauscht auf den Text – und macht so Cavallis Magie in jedem Takt hörbar.

„La Calisto“ am Teatro alla Scala
„La Calisto“ am Teatro alla Scala

Die Farben und Timbres von starken sängerischen Individuen

An der Scala, wo im Dezember dann wieder La Netrebko ihren Luxussopran als Lady Macbeth hören lässt, müssen indes auch Sängerinnen und Sänger auf der Bühne stehen, die den Raum mühelos füllen. Rousset hat hier Persönlichkeiten zusammengeführt, die aus durchaus unterschiedlichen stilistischen Ecken der Oper kommen und sich dank seines Feingefühls auf eine gemeinsamen Cavalli-Klang verständigt haben, der die Farben und Timbres von starken Individuen ausdrücklich zulässt und braucht. Der lyrische Liebreiz der titelgebenden Nymphe Calisto gewinnt dank des silberklaren Soprans von Chen Reiss zart berührende Intensität. Ihre Chefin Diana bildet dank des edeldunklen, gleichsam aristokratischen Soprans von Olga Bezsmertna den idealen Kontrast. Diana leiht hier auch Obergott Jupiter ihre Stimme, wenn der in ihre Gestalt schlüpft, um sich der heiß begehrten Calisto unerlaubt sexuell nähern zu können. Die in der barocken Ikonographie nahegelegte mögliche lesbische Liebe zwischen Calisto und Diana erhält so ihre musikalische Bestätigung.

Basspotent und eloquent versieht Luca Tittoto seinen Giove-Jupiter mit vokaler männlicher Macht. Christophe Dumaux als Endiminione setzt seinen so ungekünstelt natürlichen, schmeicheln schönen Countertenor wie ein „normaler“ Tenor mit ausgebauter Kopfstimme ein. Markus Werba, direkt von Mozarts Figaro und Don Giovanni kommend, singt die Tenorpartie des Mercurio mit seinem schlanken Bariton mit großer Autorität. Damiana Mizzi macht aus dem Satirino – dem kleinen Satyr – eine Vorgängerin der Despina, die sich munter über die unsteten sexuellen Verrücktheiten der Menschen lustig macht. Überhaupt: Die Sänger beglaubigen Cavallis „Rolle“ als Missing Link zwischen Monteverdi und Mozart, dessen psychologischer Seelenton in „La Calisto“ bereits früh antizipiert erscheint.

„La Calisto“ am Teatro alla Scala
„La Calisto“ am Teatro alla Scala

David McVicar braucht gar keine Überzeichnung des postmodernen Barockspektakels

Last not least die Inszenierung: David McVicar schlägt eine Brücke vom Mythos in die Gegenwart, indem er die Handlung in den barocken Rahmen der Cavalli-Zeit setzt. Eine historische Bibliothek dient hier als eine Sternwarte mit Riesenteleskop und eröffnet den Blick aufs Firmament, an das Jupiter seine geliebte Calisto am Ende verbannen muss und damit aber auch verewigen kann: Die Gestalt der Schönen wandelt sich dazu zum Großen Bären – hier als choreographierte Metamorphose fantasievoll umgesetzt. David McVicar kann sich somit die sonst allfällige postmodern barockspektakelnde Überzeichnung sparen. Er lauscht dem Libretto und seiner Poesie so sensibel nach, wie Rousset die Musik erspürt. Als Videos ziehen hinter den Fenster der barocken Bibliothek Gemälde der Zeit vorbei. Mal taucht da auch schon Schinkels Sternenhimmel auf, den er später für die Auftritte der sternenflammenden Königin schaffen sollte: Véronique Gens als schwarzgewandete Göttergattin Juno nimmt vor dieser Kulisse herrlich keifend die Königin der Nacht vorweg.

Teatro alla Scala
Cavalli: La Calisto

Christophe Rousset (Leitung), David McVicar (Regie),Charles Edwards (Bühne), Doey Lüthi (Koastüm), Adam Silverman (Licht), Jo Meredith (Choreographie), Rob Vale (Video), Chen Reiss, Olga Bezsmertna, Luca Tittoto, Véronique Gens, Christophe Dumaux, Luigi De Donato, Markus Werba, Chiara Amarù, Federica Guida, Svetlina Stoyanova, John Tessier, Damiana Mizzi, Teatro alla Scala Orchestra, Les Talens Lyriques

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