Jeder in Großbritannien kennt die Duchess of Argyll. Legendär sind ihre, möglicherweise durch einen Sturz in einen Aufzugsschacht ausgelöste Gier nach Sexualität, ihre Verschwendungssucht und ihre Exzentrik. Nie sah man sie ohne schwarze Pudel und eine dreifach um ihren Hals gelegte Perlenkette. Vor allem aber war ihr zweiter Scheidungsprozess einer der größten Skandale der britischen Rechtsgeschichte. Hier wurde sie wegen „Promiskuität“ mit 88 Männern, teilweise gar auf Polaroid dokumentiert, schuldig gesprochen. Dass ihr Mann von ihrem Geld lebte, seine Frau schlecht behandelte und selber jede Menge Liebschaften hatte, interessierte niemanden.
1994 machte der damals erst 24jährige englische Komponist Thomas Adès aus dem Sujet eine Oper. Darin folgte er größtenteils den bekannten historischen Vorgängen. Und er stellte der Herzogin drei Sänger gegenüber (Sopran, Tenor, Bass), die alle anderen Rollen übernehmen. Die Musik mit ihren vielen Zitaten und Effekten wird dominiert von oft untergründigen oder verzerrten Tanzrhythmen. Die ungewöhnliche Instrumentierung weist nur einfach besetzte Streicher und Blechbläser auf, dafür mehrere Klarinetten und Saxophone, Keyboard, Harfe, Akkordeon und viel Schlagwerk.
Ein liebesbedürftiger Mensch wird ausgenutzt und verachtet
Für den Regisseur Ludger Engels ist „Powder her Face“ eine Tragödie der Einsamkeit. Er ignoriert die vielen ironischen Momente von Libretto und Partitur nicht, baut sie jedoch nicht humoristisch aus, sondern formt sie zu boshaften Fratzen. Über zwei Stunden zeigt er am Theater Aachen, wie ein extrem liebesbedürftiger Mensch ausgenutzt und verachtet wird. Man nimmt das Geld der Herzogin, man beutet ihre Prominenz aus, man sieht auf sie herab. Dass es dieser Frau zusätzlich an jedem Funken Lebenstüchtigkeit fehlt, verschweigen Stück und Inszenierung nicht, verwenden es aber auch nicht gegen ihre Protagonisten.
Oralsex ohne Peinlichkeit: Die berühmteste Szene des Stückes erschüttert
Adès‘ Dramaturgie besteht aus einem Netz von Zeitsprüngen und Rückblenden. Engels verdoppelt die Titelfigur mit der nie sprechenden Schauspielerin Elisabeth Ebeling, die als alter Schatten, fast als Geist über die Bühne wandelt und so Gleichzeitigkeit herstellt, Vergangenheit und Zukunft ineinander schiebt. Drei Räume hat Moritz Junge auf die Drehbühne gestellt, eine große Hotelsuite, einen kleinen Salon mit Spiegel und Kamin und ein Zimmer in einer Absteige. Hier ereignet sich die berühmteste Szene des Stückes – und die erschütterndste eines reichen Theaterabends. Nach langem inneren Widerstreit gibt die Duchess einem Zimmerkellner Geld, um ihn oral befriedigen zu dürfen, was Engels sachlich und ohne jede Sensationsgier so inszeniert, dass es wehtut, obwohl fast nichts zu sehen ist.
Kapellmeister Justus Thorau lässt lustvoll musizieren
Diese Sachlichkeit ist ein großes Plus der Inszenierung. Keine Standardgesten, nirgends. Kluge Nutzung der Räume für kleine, immer wieder überraschende Bilder. Und ein wunderbares Ohr für die Musik. Immer wieder verfallen die Sänger in Tanzbewegungen und verweisen auf die Musik, die oft vergangenen Glanz und zukünftiges Elend brillant zusammenführt. Natürlich kann sich eine derartig tolle Aufführung nur ereignen, wenn auch musikalisch alles stimmt. Dafür sorgt in erster Linie der junge Kapellmeister Justus Thorau, der unheimlich präzise, aber vor allem locker und lustvoll musizieren lässt. Da darf ein Saxophon auch mal einen Ton einfach hinschmieren.
Perfektes Sängerensemble
Auch das Sängerensemble ist perfekt zusammengestellt. Über wunderbaren Schmelz und Eleganz in Stimme und Bewegung gebietet Patricio Arroyo, der oft mit Jelena Rakic zu einer Art Beschimpfungschor zusammengeführt wird. Rakic bewältigt die vielen extremen Höhen und Intervalle sicher, hat starke Präsenz und übertreibt nie. Auch Bart Driessen gefällt mit Dezenz, Intensität und sonoren Basstiefen. Eva Bernard schließlich ist eine geradezu perfekte Verkörperung der Duchess. Ihr glaubt man Leid, Sucht, Eitelkeit, Exzentrik, einfach alles. Auch weil sie der musikalisch vertrackten Partie nicht eine Note schuldig bleibt, nicht Innigkeit, nicht Dramatik, nicht Höhensicherheit. Grandios.
Theater Aachen
Adès: Powder her Face
Justus Thorau (Leitung), Ludger Engels (Regie), Moritz Junge (Ausstatung), Eva Bernard, Elisabeth Ebeling (Duchess), Bart Driessen (Hotel Manager u.a.), Patricio Arroyo (Electician u.a.), Jelena Rakic (Maid u.a.), Sinfonieorchester Aachen