Nach dem Erfolg mit Menottis „Das Telefon“ und Poulencs „Die menschliche Stimme“ geht es vor einer Winterpause im Januar 2022 auf der großen Bühne des Theaters Gera und im Theaterzelt, der Interimsspielstätte am Standort Altenburg, mit spannenden Kammeropern weiter. Infolge der gelockerten Hygienemaßregelungen hatte das ostthrüringische Theater Altenburg Gera seine reguläre Ferienzeit im Sommer 2021 außer Plan durchgespielt und damit alle Möglichkeiten ausgeschöpft, um für sein Publikum präsent zu sein.
Auf John Taverners faszinierend dichtes Zweipersonen-Drama „A Gentle Sprit“ folgt William Waltons Burleske „The Bear“. Gesungen wurde auf englisch. Auch der neue Einakter-Abend enthält in der Kombination zweier Vertonungen russischer Textvorlagen durch britische Komponisten entstehungsbezogene und vor allem thematische Parallelen: Das Ekelpaket an ihrer Seite treibt die Frau aus Dostojewskis fantastischer Erzählung „Die Sanfte“ in den Selbstmord. Dagegen wird die trauerfreudige Witwe in Tschechows Einakter zunehmend lustiger und spürt unter ihren schwerem Kleid und Heiligenschein sogar neue Hummeln im Bauch. Am Ende fragt man sich, warum britische Opern in Deutschland mit Ausnahme von Britten und Purcell noch immer viel zu selten sind. Oder beruht das Glück dieses Abends vor allem an der packenden Kombination? Generalintendant Kay Kuntze versetzt in seinen Inszenierungen die Werke in denkbar größte Reibungshitze. Was Benita Roth und er auf der fast leeren, schwarzen Bühne im ersten Teil verkargen, knallen sie in der Extravaganza „Der Bär“ mit perfekt aufgehendem Kalkül drauf. Das wird zu ebenso sinnvoller Kontrastschärfe wie vor einem Jahr in „Telefon“ und „Die menschliche Stimme“.
Archetypische Wucht
Für russische Ehemänner brauchen Frauen starke Nerven. Anya stürzt sich schließlich mit einer Ikone im Arm aus dem Fenster. Offenkundig ist, dass sie die neurotisch besessene Ichbezogenheit ihres Mannes Alexei nicht mehr ertragen konnte. John Taverner komponierte diese Oper 1977, im Jahr seines Übertritts zum russisch-orthodoxen Glauben. Der Komponist zeigte immer wieder sensible Antennen für Spirituelles. Nicht nur deswegen musste ihn Dostojewskis Thema interessieren, das Taverner in einen Beziehungskrimi mit archetypischen Überbau verwandelte.
Die Stilistik der Musik von „A Gentle Spirit“ ist gar nicht so weit entfernt von Bartóks „Herzogs Blaubart Burg“. Auch da kämpft eine Frau um ihren Mann, bis es nicht mehr geht. Nur wird der Konflikt bei Taverner weitaus schärfer ausgetragen. Ein in der Partitur vorgesehener und von Generalmusikdirektor Ruben Gazarian zugeschalteter Tape-Loop leitet die Erinnerungsszenen ein. Dieser unterbricht die Erinnerungen Alexeis an die von ihm verursachte Tragödie. Gazarian zeigt große Affinität zu beiden Partituren des Abends. Er hält Melos, Transparenz und musikalischen Fluss in idealen Relationen – und er denkt szenisch-sinnlich auf erfreuliche Weise mit.
Gerard McLarnons Textbuch zu „A Gentle Spirit“ reiht offene Szenen und lässt Freiräume für eigene Deutungsansätze des Publikums. Taverners Musik ist weitaus moderner als sie klingt. Trotz seiner negativen Eigenschaften hat die Partie Alexeis Melos und damit sogar attraktives Potenzial. Weil das Philharmonische Orchester Altenburg Gera im Graben des Theaters derzeit wegen des Hygienekonzepts in kleinerer Besetzung spielt, hört man die Anatomie der dichten Komposition umso deutlicher. Das ist über der farbenreichen Instrumentation auch die Stimmen optimal. Miriam Zubieta und Isaac Lee treiben im Klang und lassen sich vom Orchester tragen. Es wechseln Zerbrechliches und Töne von unterschwelliger Wut: Sopran und Tenor im schön und dabei aufrichtig gesungenen Geschlechterkampf.
Taverners Partitur setzt andere Dramen des frühen 20. Jahrhunderts, die auf Beziehungsmessers Schneide tanzen, fort. Die Verdopplung der Frauenfigur durch Lilli Wiesner schafft eine somnambule Atmosphäre von hoher, aber nicht drückender Konzentration. Auf der Bühne sieht man verdüsternde Seelen und Körper in Schwarzweiß. Einziger Einwand könnte sein, dass Kuntzes subtile und filigrane Mittel in „A Gentle Spirit“ seinem abenteuernden Komödiantentum in „The Bear“ nicht ganz standhalten.
Lustige Witwe mit Heiligenschein
Da thront die in einjährigem Jammern über den Tod des Gatten erstarrte Popowa auf einer Troika, hat für nichts Augen und Töne außer für die vom Diener Luka sorgfältig staubfrei gehaltene Urne mit der Asche des seligen Gatten. Kai Wefer machen die Sprünge zwischen Devotion und Anzüglichkeit unter der weißen Perücke tierischen Spaß. Bis der weder sonderlich attraktive noch zu hartnäckige Smirnov kommt, um die überfällige Schuldenlasten des Toten einzutreiben. Smirnov holt Popowa von ihrem allzu hohen Trauersockel herunter und fordert sie zum genderkorrekten Duell. Das geht nur für das Reitpferd Toby – genauer dessen hier an der Wand prangenden Haupt – schlecht aus. Um die gefühlsstarke Witwe ihrer starren Grundsätze zu entledigen, braucht der blasse Smirnov nicht länger als der pfiffige Legionär bei der sprichwörtlich willfährigen Witwe von Ephesos. Johannes Becks Bariton blüht dazu schon fast kontraproduktiv auf. Nur mit Mühe bändigt er den Filou hinter der Maske des Buchhalters.
Wenn die Dame des nach außen guten russischen Hauses die wuchtigen Colts ihres Verblichenen holt, wenn Luka Verdruss über das Einerlei der Trauerarbeit zeigt und Smirnov sich entschließt, das Schuldgeld und die Witwe obendrein zu wollen, befindet sich die Geraer „Extravaganza“ im turbulenten Stimmungshochflug. Eva-Maria Wurlitzer singt die Paraderolle mit der Direktheit von Zarah Leander, dazu der einer Diva und Chansonière angemessenen Raffinesse. Ihr Solo mit dem schon nicht mehr ganz ernst genommenen „Trauern, trauern, trauern“ setzt Phantasien frei, während unter dem großen Teppich und allerlei dekorativem, aussagekräftigem Folklore-Schnickschnack ganze Ballen von Liebesbriefen ihres Gatten an seine Betthäschen hervorquellen. „The Bear“ strotzt vor Bigotterie und spielerischer Verve. So rundet sich dieser Doppelabend zu einer wunderlichen und aufrüttelnden Maßnahme gegen Corona-Apathie.
Weitere Termine: 17.12.2021, 27.3., 18.6.2022
Theater Altenburg Gera
Tavener: A Gentle Spirit/Walton: The Bear
Ruben Gazarian (Leitung), Kay Kuntze (Regie), Benita Roth (Bühne & Kostüme), Miriam Zubieta (Girl-Anya), Isaac Lee (Man-Alexei), Lilli Wiesner (Girl Double), Eva-Maria Wurlitzer (Popowa), Johannes Beck (Smirnow), Kai Wefer (Luka), Ensemble Philharmonisches Orchester Altenburg Gera