Giacomo Puccinis „Turandot“ ist in gleich mehrfacher Hinsicht ein Problemfall. Rein aufführungstechnisch sind die Anforderungen enorm. Orchester, Chor und die Protagonisten, die sich darauf einlassen, sind zu Höchstleistungen herausgefordert. Auch als Werk im Ganzen ist Puccinis letzte Oper ein Problem, weil sie nicht vom Komponisten selbst vollendet worden ist. Der männliche Held im Stück kann zwar die drei Rätsel, die ihm die Titelheldin aufgibt, lösen.
Puccini selbst gelang das mit dem Rätsel, welches der Grundkonflikt zwischen den beiden bleibt, aber nicht. Lange rang er mit einem plausiblen Schluss, starb aber, bevor er eine Lösung hatte, mit der er dem Publikum die Chance bieten konnte, ihm zu folgen. Für jede Neuproduktion – also auch für jene am Theater Basel – steht so zunächst die Entscheidung an, ob man „Turandot“ einfach so enden lässt, wie sie der Komponist hinterlassen hat, oder ob man sich für der nachkomponierten Schluss von Franco Alfano oder auch den von Luciano Berio entscheidet.
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Zwei Puccini-Opern zum Preis von einer
In Basel haben sich jetzt Regisseur Christof Loy und Dirigent José Miguel Pérez-Sierra für ein weder-noch entschieden und der Aufführungspraxis eine neue Variante hinzugefügt. Sie haben dem Fragment mit Puccinis Streichorchester „Crisantemi“ eine Art Ouvertüre vorangestellt. Und am Ende den 4. Akt seiner Oper „Manon Lescaut“ angefügt. Musik aus zwei Puccini-Opern zum Preis von einer sozusagen. Ist das, wie bei Loy üblich, sorgfältig ausinszenierte Vorspiel noch vergleichsweise plausibel, weil es die Möglichkeit bietet, einen Blick in die Kindheit von Turandot zu werfen, so bleibt der „Manon-Lescaut“-Schluss mit seinem ziemlich pathetischen Liebestod in der Wüste problematisch.
Wenn Turandot sozusagen die emotionale Kehrtwende von der Massenmörderin zur liebenden Frau zugebilligt wird und Calaf als Überlebender sie mit der von ihm nach ihrem Selbstmord als Liebende „entdeckten“ Liù gleichsam als Einheit imaginiert, wird das genau zu dem Happyend, das Puccini sich und der Nachwelt nicht zumuten wollte. Denn wie man es auch dreht und wendet – diese Prinzessin Turandot und auch dieser Prinz Calaf sind schwer gestört.
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Wir lernen die halbwüchsige Turandot kennen
Turandot ist das hier schon als Kind. Wenn in dem imperial prunkvollen Salon, mit dem Ausstatter Herbert Murauer die Bühne gefüllt hat, die halbwüchsige Turandot von der Tafel aufspringt, trotzig eine Prinzenpuppe zu Boden wirft und ihr schließlich den Kopf abreist, dann wirkt ihr Vater zwar höchst besorgt, entscheidet sich aber nicht für eine Therapie, sondern für tolerierendes Wegsehen. Wenn Turandot dann erwachsen ist, wiederholt sich dieses abartige Spiel mit einem echten persischen Prinzen. Gerade sitzt er noch an der noblen Tafel, da wird das Todesurteil verkündet.
Für die Anzugträger Ping, Pang und Pong wirkt das wie ein Signal, die Maske der Zivilisation fallen zu lassen und ihren destruktiven Obsessionen freien Lauf zu lassen. Sie schlagen zu und haben ihren Spaß am Menschenquälen. Erst als Hausherr (mit nobler Zurückhaltung als Altoum: Rolf Romei) nach einer kurzen Abwesenheit zurückkommt und offensichtlich angewidert von diesem Treiben ist, kommen sie zur Besinnung. Die Prinzessin spielt ihr blutiges Spiel mit ritualisierter Präzision. Wenn sie für eine Sekunde zögert und den schönen Prinzen fast geküsst hätte, dann ahnt man, dass ihr Trauma tief sitzt und auch die Furcht vor sich selbst einbezieht. Den Tod des persischen Prinzen lässt Loy voll ausspielen – Mord ist ihr Hobby.
Das Familien-Entree
Loy lenkt mit diesem Familien-Entree zwar den Fokus vor allem auf die Befindlichkeit der Titelfigur. Die Psychologie einer selbsternannten Rächerin einer missbrauchten Ahnin an den Männern, die Frauen mit jeder Werbung als ihren Besitz reklamieren, ist das eine. Und hat Potenzial. In einem noblen Salon mit opulenten Tapeten, prächtiger Schiebetür und üppiger Tafel bleibt das mörderische Terrorregime, das der Kaiser seiner Tochter hier offenbar als Spielwiese zum Ausleben ihrer Perversion eingerichtet hat, draußen vor der Tür. Eigentlich nur eine Behauptung.
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Ein unschuldsweißer Nichtraum schluckt den ganzen folkloristischen Bühnenzauber
Bei der Rätselshow vor versammeltem, chinesisch kostümiertem Volk wirkt der Rahmen des Einheitsbühnenbildes dann wiederum beklemmend eng. Aber wie eine demonstrative Erinnerung an die ganz große Opernshow, bei der natürlich der von Michael Clark einstudierte Chor zur Hochform aufläuft. Seinem psychologischen Ansatz folgend hat Loy für Liù (mit anrührender Intensität: Mané Galoyan) und Timur (kurz aber imponierend auftrumpfend: Sam Carl) eine eigene Welt reserviert. Es ist ein unschuldsweißer Nichtraum über dem Salon. Seiner Erzähllogik folgend, schluckt dieser Nichtraum von reiner Liebe, dem auch der Tod nichts anhaben kann, für den „Manon-Lescout“-Schluss den ganzen folkloristischen Bühnenzauber.
Klassische Figurenzeichnung
Die Figuren zeichnet Loy im Grunde klassisch konventionell. Gelungen sind dabei die differenzierten Porträts von Ping (David Oller), Pang (Ronan Caillet) und Pong (Lucas von Lierop). Zunächst sind sie Opportunisten reinsten Wassers in der Nähe des Kaisers. Sie versuchen aufrichtig, Calaf von seinem selbstmörderischen Unterfangen abzubringen und nicht der 13. Tote des laufenden Jahres zu werden. Aber wenn die Prinzessin sie von der Leine lässt, dann lassen sie nicht nur die Sau raus und misshandeln den persischen Prinzen mit Lust – sie werden zu skrupellosen Folterknechten, wenn es darum geht, den Namen von Calaf herauszubekommen. Dass sie auch in der metaphorischen „Manon-Lescaut“-Wüste landen, ist immerhin nachvollziehbar.
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Musikalische und vokale Prachtentfaltung
Bei allen prinzipiellen Einwänden, die man gegen Loys szenische Lesart haben kann, bietet sie doch den Raum für eine musikalische und vokale Prachtentfaltung, wie man sie bei Turandot erwartet. Die eiskalte Prinzessin ist bei Miren Urbieta-Vega noch mehr stimmlich als in ihrem Spiel beglaubigt. Den Wechsel in die Selbstreflexion der Manon Lescaut bewältigt sie imponierend sicher. Rodrigo Porras Garulo ist ein vokal imponierend auftrumpfender und darstellerisch durchaus charismatischer Calaf.
Mit einer Lösung des großen Turandot-Rätsels überrascht auch Christof Loy in Basel nicht. Dass das Werk – in welcher Form auch immer – ein Musterbeispiel für musikalische Überwältigung ist, das belegte auch diese Basler Neuproduktion überzeugend. Einhelliger Jubel für alle Beteiligten, inklusive Regieteam!
Theater Basel
Puccini: Turandot
José Miguel Pérez-Sierra (Leitung), Christof Loy (Regie), Herbert Murauer (Bühne & Kostüme), Thomas Kleinstück (Licht), Michael Clark (Chor), Pascu Ortí (choreographische Mitarbeit), Meret Kündig (Dramaturgie), Miren Urbieta-Vega, Rolf Romei, Sam Carl, Rodrigo Porras Garulo, Mané Galoyan, David Oller, Ronan Caillet, Lucas van Lierop, Andrew Murphy, Elio Staub, Pascu Orti, Giuliana Sollami, Marie Da Silva, Giuseppe Bencivenga, Chor des Theater Basel, Extrachor des Theater Basel, Knabenkantorei Basel, Sinfonieorchester Basel
Sa., 08. März 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Puccini: Turadot
Rolf Romei (Altoum), Sam Carl (Timur), Rodrigo Porras Garulo (Calàf), Christof Loy (Regie)
So., 16. März 2025 18:30 Uhr
Musiktheater
Puccini: Turadot
Rolf Romei (Altoum), Sam Carl (Timur), Rodrigo Porras Garulo (Calàf), Christof Loy (Regie)
So., 23. März 2025 18:30 Uhr
Musiktheater
Puccini: Turadot
Rolf Romei (Altoum), Sam Carl (Timur), Rodrigo Porras Garulo (Calàf), Christof Loy (Regie)
Sa., 29. März 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Puccini: Turadot
Rolf Romei (Altoum), Sam Carl (Timur), Rodrigo Porras Garulo (Calàf), Christof Loy (Regie)
Fr., 04. April 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Puccini: Turadot
Rolf Romei (Altoum), Sam Carl (Timur), Rodrigo Porras Garulo (Calàf), Christof Loy (Regie)