Das Theater Bielefeld ist auf dem Weg, ein neues Genre zu erschaffen, die „Lichtspieloper“. Gemeint sind nicht Uraufführungen, vielmehr entdeckt man in Ostwestfalen die bereits in manchem Werk des Repertoires enthaltenen kinematographischen Züge. In der vergangenen Spielzeit in Wagners „Parsifal“. Nun auch in Honeggers „Dramatischen Oratorium“. Nimmt des Bayreuther Meisters „Weltabschiedswerk“ Elemente des Kinos ahnungsvoll vorweg, so bedienen sich Honegger und sein Librettist Paul Claudel höchst bewusst filmischer Errungenschaften. Die vom Orchester begleiteten Sprechrollen binden sich daher weniger an überkommene französische Melodramen zurück als an im Uraufführungsjahr 1935 längst gängige filmische Usancen. Nicht anders die szenischen Rückblenden. Deshalb kein Zweifel, die Stückwahl der Bielefelder erweist sich als glücklich.
Zeichenkunst als Handlungselement
Der Umzug vom Stadttheater in die Schuhschachtel des örtlichen Konzerthauses – die Rudolf-Oetker-Halle – unterstreicht den Anspruch der Vereinigung von Konzert und filmisch bewegten Bildern zum Musiktheater neuen Typs. Über Solistinnen und Solisten spannt sich im Hintergrund eine Cinemascope-Leinwand. Die darauf zu sehenden Bilder für den Prolog und jede der elf Szenen zeigen sich als work in progress simultan zur Musik am rampennah aufgestellten Zeichentisch erzeugt und projiziert. Reinhard Kleist, eine erste Adresse im Metier von Comic und Graphic Novel, wirft voller Verve und Tempo Szenen auf die Bildfläche, in denen die Jungfrau von Orléans meist superheldinnengleich agiert. Eilends erwachsen wie aus dem Nichts hochdramatisch aufgeladene Gruppenkompositionen, deren inhaltlich und durch düsteres Kolorit oft übersteigertes Pathos befremden müsste, besäße die Linienführung geringere Leichtigkeit und weniger virtuosen Schwung. Andererseits erweist sich Kleist wiederholt als trefflicher Karikaturist. Sein Richter Porcus zeigt das eitle Schwein im Bischofsornat, den Esel von Gerichtsschreiberling als nur zu willigen Erfüllungsgehilfen übelster Gesinnungsjustiz. Ihrem König voranreitend, manövriert Johanna den gleich einem Sack auf seinem Pferd platzierten Karl VII. am Gängelband zur Krönung nach Reims.
Bilderflut auf Augenhöhe mit Schauspiel
Manche Bilder freilich erreichen ihre Vollendung vor Szenenschluss. Die verbleibende Zeit füllt Kleist in solchen Fällen mit überflüssigen und den Bildaufbau verunklarenden Zutaten. Die Schabracken der Pferde und Lanzen der Soldateska können dann gar nicht genug Fransen und Wimpel zieren. Kleists Lösung für Johannas Flammentod darf getrost unter Kitsch firmieren. Hingehen mag bei der am Pfahl des Scheiterhaufens den Tod erwartenden Delinquentin die Doppelung der einerseits gefesselten, andererseits himmelwärts ausgebreiteten Arme. Doch über die Miniaturtaube des Heiligen Geistes samt des darunter schwebenden Herzchens schwiege am liebsten die Höflichkeit. Angesichts der zeichnerischen Reize beschränkt sich Regisseur Wolfgang Nägele meist auf das Allernotwendigste. Funktionieren indes die Granden Englands, Burgunds und Frankreichs Kleists Zeichen- zum Spieltisch um, auf dem sie mit dem As ihres jeweiligen Herrschers auftrumpfen, eröffnet sich ein Weg zur Augenhöhe von Bilderflut und schauspielerischen Entfaltungsmöglichkeiten für das Ensemble.
Musiktheater und Schauspiel im Totaleinsatz
Kollektive samt Solistinnen und Solisten nehmen spartenübergreifend für sich ein. Chor und Extrachor unter Hagen Enke vereinbaren Monumentalität mit sanglicher Kultiviertheit. Die JunOs (Kinder- und Jugendchor des Hauses) werden durch Felicitas Jacobsen und Anna Janiszewska dazu motiviert, sich präzise und klangschön ins Geschehen einzubringen. Alexander Kalajdzic lässt die Bielefelder Philharmoniker Honeggers Stilmixtur opulent ausmusizieren. Neutönerisches samt Elektronik, Jazz und Volksweisen dürfen sich profilieren, der mystische Gesamteindruck bleibt dabei erhalten. Die Saxofone sind vorzüglich. Singende und Spielende vereinen sich zur Synthese aus Musik- und Sprechtheater. In der Titelrolle gelingt Johanna Wokalek, auch im Deutschen bis in jene letzten Nuancen des Textes vorzudringen, die sie sich bislang für das Französische erschlossen hatte. Um sie durch ihre Erinnerungen zu begleiten, fühlt sich John Wesley Zielmanns Bruder Dominik in Johannas Denken und Empfinden ein. Strahlkräftig und prägnant gibt Lorin Wey sein Tenorsolo wie auch den Richter Porcus. Für das Bass-Solo wie auch die anderen von ihm verkörperten Partien legt sich Moon Soo Park vokal ebenso durchschlagskräftig wie sensibel ins Zeug.
Die „Lichtspieloper“ steht noch ganz am Anfang. Die Bielefelder „Johanna auf dem Scheiterhaufen“ verspricht manches. Um aber vom Genre tatsächlich zu überzeugen und es durchzusetzen, werden weitere Pioniertaten folgen müssen.
Theater Bielefeld
Honegger: Johanna auf dem Scheiterhaufen
Alexander Kalajdzic (Leitung), Wolfgang Nägele (Künstlerische Gesamtleitung), Reinhard Kleist (Live Drawing), Hagen Enke (Chor), Felicitas Jacobsen, Anna Janiszewska (Einstudierung JunOs), Johanna Wokalek, John Wesley Zielmann, Veronika Lee, Mayan Goldenfeld, Freya Apffelstaedt, Tilman Rose, Lorin Wey, Moon Soo Park, Franziska Hösli, Bojan Heyn, Vitus Kalbhenn, Melody Schneider, Leni Weßel, Opernchor und Extrachor des Theaters Bielefeld, JunOs, Bielefelder Philharmoniker